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Wer hat Angst vor Beowulf?

Wer hat Angst vor Beowulf?

Titel: Wer hat Angst vor Beowulf?
Autoren: Tom Holt
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rückwärts wieder heraus und rannte wie ein aufgescheuchter Hase davon. Das Vermessungsteam sah ihm mit Erstaunen hinterher; dann drehten sich die Männer wieder um und starrten in das offene Loch. Ein behelmter Kopf war aus der Dunkelheit hervorgetaucht, vor dessen Augen ein Panzerhandschuh gehalten wurde, um sich vor dem Licht zu schützen.
    »Also, raus mit der Sprache!« schepperte es gereizt aus dem Helm heraus. »Wer von euch Witzbolden hat unsere Leiter weggenommen?«
     
    Hildy wartete und wartete, aber niemand kam. Sie versuchte, die Zeit mit dem erneuten Lesen ihrer Lieblingssagen totzuschlagen, aber selbst deren längst liebgewonnenen Helden gelang es heute nicht, ihre Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten. Denn während sie las, wurden vor ihrem geistigen Auge alle jene träumerischen Vorstellungen und Fiktionen, die sich bei ihr in dem fernen und gar nicht heldenhaften Städtchen Setauket entwickelt hatten, durch neue und sehr viel genauere Visionen verdrängt und ersetzt. Zum Beispiel hatte sie sich immer die einsame Halle im bergigen Moorland, in der Gunnar van Hlidarend, Inbegriff des Helden in der Sagendichtung, letzten Widerstand leistete, als den leerstehenden Schuppen auf dem unbewohnten Gelände in der Nähe der Bahngleise vorgestellt. Folglich konnte Mord Valgardsson ohne weiteres sein Mördergesindel aus dem Drugstore in der Constitution Street heraus anführen, wo sie vermutlich den Vorsatz ihrer schändlichen Tat bei einem gemischten Eis mit Sahne bekräftigten. Sigmund und Sinfjotli waren an den Stamm des gefällten Apfelbaums im Hinterhof ihres Elternhauses gekettet, und dorthin kam auch in jener bedrückenden Nacht der Wolf, der in Wirklichkeit der König in tierischer Gestalt war, und biß Sigmund die Hand ab. Auf diese Weise hatte Hildy die Verbindung zwischen dem Erwachsensein und ihrer Kindheit stets aufrechterhalten; aber durch den Anblick des Schiffs und des Goldhaufens war diese Verbindung jetzt zerschlagen worden. Sie hatte mit eigenen Augen einen leibhaftigen toten Wikinger gesehen, der sich niemals irgendwo in der Nähe von Setauket aufgehalten hatte und schon deshalb weit aufregender und sehr viel gefährlicher war. Long-Island-Wikinger waren anders; sie hatten immer an der Haustür haltgemacht und es nie gewagt hereinzukommen. Die Caithness-Sorte schien da drastischer vorzugehen. Diese waren überall um sie herum, selbst unter dem Bett – nämlich in Form der Spange, die sie in ihrem Koffer aufbewahrte.
    Hildy kämpfte beherzt gegen den unwiderstehlichen Drang an, das Schmuckstück unter all den Kleidern und Sweatshirts hervorzukramen und ins Licht zu halten, aber auch sie war nur aus Fleisch und Blut. Die Spange leuchtete in ihren Händen; allerdings schien sie sich nicht mit dem Schlagen ihres pochenden Herzens zu bewegen, sondern in einem eigenen Rhythmus, ganz so, als verfüge sie über eine eigene Macht. Hildy unternahm einen Versuch, sie unter rein fachlichen Aspekten zu betrachten, um zu sehen, ob dadurch der an der Spange haftende Zauber verflöge – zweifellos schwedische Einflüsse; die Granateinlagen stammten vermutlich aus Indien, waren jedoch in Dänemark geschliffen worden; dennoch war ein Großteil des Werkstücks im klassischen norwegischen Stil hergestellt, und die Runen gehörten zur Orkney-Variante des frühurnordischen Runenalphabets ›Futhark‹. Sie hielt inne und runzelte die Stirn. Die Runen hatte sie schon zuvor bemerkt, doch das grelle Licht der Leselampe schien wie Wasser nach dem Öffnen einer Schleuse in einen Kanal in sie hineinzufließen, so daß die Zeichen zwar nur winzig, aber deutlich auf der Hauptkrümmung der Spirale im Zentrum der Verzierung hervortraten.
    Runen. Aus einem unerfindlichen Grund hatte ihr Herz zu schlagen aufgehört. Vielleicht lag irgendein Zauber in diesen außergewöhnlichen Zeichen, die in einer Zeit erfunden worden waren, als jede Schrift an sich schon magisch war; ein geheimer Hinweis auf verschwiegenem Metall, das sich ohne Sprache mit den Augen eines weisen Lehrmeisters in Verbindung setzen konnte. Runen können nichts dafür, daß sie magisch sind, selbst wenn es sich bei dem Inhalt ihrer Verkündigung um etwas ganz Alltägliches handelt: Eine in den Türsturz geschnitzte Rune soll die schlaflosen Geister davon abhalten, auf dem Dach herumzuspuken, oder aber einen Fluch auf das Haus legen, damit die Milch gerinnt und alle Feuer mit einem Male erlöschen. Man schrieb Runen auch Zauberkraft zu. Um die Runen zu
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