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Wer hat Angst vor Beowulf?

Wer hat Angst vor Beowulf?

Titel: Wer hat Angst vor Beowulf?
Autoren: Tom Holt
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menschliche Körper!
    Dann ging die Taschenlampe aus.
    Die menschliche Seele ist ein unberechenbares Ding. Ungefähr eine Sekunde zuvor hatte Hildy ›Ich-schaute-in-das-Antlitz-von-?‹-Frederiksen noch der Vorsehung gedankt, daß ihr allein das Privileg gewährt worden war, der erste lebende Mensch in zwölfhundert Jahren zu sein, der seinen Fuß auf die Planken des Wikingerschiffs Naglfar setzen durfte. Nun jedoch, als sie regungslos in der vollkommenen Stille und absoluten Finsternis stand, kam ihr in den Sinn, daß es eigentlich ganz nett und angenehm gewesen wäre, jemanden bei sich zu haben, der diesen Moment mit ihr hätte teilen können, und zwar vorzugsweise jemanden mit einer zuverlässig funktionierenden Taschenlampe. Sie ermahnte sich in aller Strenge, daß Archäologie eine Wissenschaft ist, daß Wissenschaftler logisch denkende und vernünftige Wesen seien und sie deshalb – zumal sie selbst eine Wissenschaftlerin war – nicht im geringsten Angst vor der Dunkelheit habe. In einem solchen Augenblick Angst zu haben, schien allerdings die logischste Regung der Welt zu sein, schließlich waren dem Menschen als erstes Angstschaltkreise in das Gehirn eingebaut worden. Die Stille war so tödlich, daß sie für einen Augenblick die eigenen Atemgeräusche für das Schnarchen der zwölf toten Wikinger hielt, die ein paar Meter von ihr entfernt unter dem Mast lagen. Sie versuchte sich zu bewegen, aber es gelang ihr nicht. Ihre Muskeln erhielten zwar den entsprechenden Befehl vom Gehirn, doch antworteten sie nur, so etwas Albernes noch nie zuvor in ihrem Leben gehört zu haben. Sie dachte darüber nach, daß Einbrecher eigentlich ständig dieses Gefühl haben mußten, aber auch dieser Gedanke war ihr nur ein schwacher Trost.
    So plötzlich, wie sie erloschen war, leuchtete die Taschenlampe wieder auf – die Funktionsweise von Tankstellen-Taschenlampen entzieht sich jeglichem Verständnis –, und Hildy beschloß, daß, obwohl es in der Grabkammer wirklich ganz angenehm war, es draußen wahrscheinlich noch angenehmer wäre. Als sie sich zur Leiter umwandte, spürte sie etwas unter dem linken Fuß, und, ohne nachzudenken, bückte sie sich und hob es auf. Es fühlte sich in ihrer Hand kalt an, und es war schwer wie eine Pistole. Sie blieb kurz stehen und sah es sich an. In ihrer Hand lag eine goldene Spange, in Form eines fliegenden Drachen mit Einlagen aus Emaille und Granat. Halbwegs erwartete Hildy, er würde sich wie ein verletzter Vogel, den man im Garten aufgehoben hatte, plötzlich bewegen. Der Lichtstrahl der Taschenlampe tanzte auf den ineinander verschlungenen Mustern und Spiralen, und sie fühlte sich wie benommen. Sie wußte ganz genau, daß sie dieses Ding niemals hätte berühren, geschweige denn in ihre Tasche stecken dürfen, und genauso wußte sie, daß keine Macht der Welt sie daran hindern konnte. Dann bildete sie sich ein, noch ein anderes Geräusch in der Grabkammer zu hören. Wie ein Kaninchen, dem ein Frettchen von der Größe einer U-Bahn auf den Fersen ist, hastete sie, die Spange in der Tasche, die Leiter hinunter und aus dem Hügel hinaus.
    Als ihre Mütze wieder im Tageslicht auftauchte, steckte der Vermessungsingenieur seine Autozeitschrift in die Tasche zurück und fragte nur: »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
    »Natürlich ist mit mir alles in Ordnung«, stammelte Hildy. Allerdings zitterte sie am ganzen Körper, und Schweiß hatte ihren Pony in kleine schwarze Stacheln verwandelt, die den Hörnern eines Hirschkäfers ähnelten. »Was sollte denn mit mir sein?«
    »Immerhin sind Sie ganz schön lange da unten gewesen«, antwortete der Ingenieur; ihm war gerade eingefallen, daß in altertümlichen Grabhügeln manchmal wesentlich transportablere Dinge als Schiffe gefunden wurden.
    »Das Ganze ist jedenfalls sehr interessant«, befand Hildy. »Wäre nett zu wissen, ob es echt ist.«
    Der Ingenieur stierte auf einen Gegenstand, der aus einer Tasche ihrer dreiviertellangen Jacke hervorlugte. Hildy verdeckte ihn sofort mit der Hand und verzog die Lippen zu einem kränklichen Lächeln.
    »Also gibt es da unten keine … nun ja, Kunstwerke oder so was Ähnliches?« hakte der Ingenieur nach, wobei er sich nach Hildys Dafürhalten eine Spur zu gleichgültig anhörte, und sie umklammerte die Spange noch fester.
    »Kann sein«, murmelte sie verlegen. »Ehrlich gesagt, war ich nicht mutig genug, überall nachzuschauen, zumal das Höhlendach ganz danach aussieht, als könnte es jeden Moment
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