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Wer hat Angst vor Beowulf?

Wer hat Angst vor Beowulf?

Titel: Wer hat Angst vor Beowulf?
Autoren: Tom Holt
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daß er wieder einmal völlig geistesabwesend war, ein Gehabe, das er oft an den Tag legte, besonders nach dem Mittagessen. »Ich komme gerade von einer ersten Überprüfung dieses Grabhügels in Rolfsness zurück. George, Sie werden es nicht glauben, aber …«
    Während sie sprach, kroch ihre Hand wie von selbst in die Jackentasche und schloß sich um den fliegenden Drachen. Irgend etwas schien ihr zu sagen, daß sie dieses außergewöhnlich schöne und gefährliche Ding auf keinen Fall bei sich behalten durfte. Gleichzeitig wußte sie aber, daß sie genau das Gegenteil tun würde – egal, ob der Drache nun Feuer spie oder nicht.
     
    Im Innern des Grabhügels herrschten wieder absolute Dunkelheit und Stille. Seit vor zwölfhundert Jahren das letzte Rasenstück auf das Spalier der Eichenbalken gelegt worden war und die Reiter zu den wartenden Schiffen zurückgeritten waren, hatte sich in der Grabkammer nichts mehr bewegt, nicht einmal ein Maulwurf oder ein Wurm. Aber nun fehlte dort etwas, das dort hätte sein sollen, und so, wie ein kleiner Stein, der aus einem Brückenbogen herausgenommen wird, die gesamte Konstruktion brüchig macht, war auch die Ruhe der Grabkammer gestört. Etwas bewegte sich in der Dunkelheit, und es bewegte sich noch einmal, und zwar mit jener Ruhelosigkeit, die kurz vor dem Erwachen auftritt.
    »Das darf doch wohl nicht wahr sein!« schimpfte eine Stimme schwach und schläfrig in der Dunkelheit. »Einige von uns versuchen hier zu schlafen.«
    Die Stille war unwiederbringlich zerbrochen wie eine Glasscheibe.
    »Was ist los?« fragte eine andere Stimme.
    »Ich sagte, hier versuchen Leute zu schlafen«, wiederholte die erste Stimme. »Also, halt’s Maul! Verstanden?«
    »Halt du doch das Maul«, entgegnete die zweite Stimme unwirsch. »Schließlich bist du hier derjenige, der den ganzen Lärm veranstaltet.«
    »Würde es euch beiden etwas ausmachen, wenigstens ein wenig Rücksicht zu nehmen?« Eine dritte Stimme meldete sich zu Wort, so tief und kraftvoll, daß die Balkenkonstruktion von ihrem Klang zu vibrieren schien. »Ich will, daß hier ab sofort wieder Grabesstille herrscht, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Ach, schön wär’s …«
    »Entschuldigung«, sagten die ersten beiden Stimmen. Die Stille versuchte zurückzukehren, so wie die sich zunächst zurückziehende Flut versucht, den Strand später wieder hinaufzukriechen.
    »Hab ich euch’s gesagt oder nicht?« meldete sich die dritte Stimme nach einer Weile zu Wort. »Ich hab euch gleich davor gewarnt, diesen Käse zu essen. Aber habt ihr auf mich gehört? Wenn ihr schon nicht schlafen könnt, dann seid wenigstens leise.«
    Man hörte das Geräusch von Bewegung, Metall kratzte auf Metall, und es klang so, als würden sich Männer in Rüstungen im Schlaf umdrehen und stöhnen.
    »Ach, das hat doch alles keinen Sinn«, grummelte die dritte Stimme. »Jetzt habt ihr’s geschafft!«
    Irgendwo in der Dunkelheit war ein quiekendes hohes Geräusch zu vernehmen, als hinge eine Fledermaus hoch oben im Gebälk einer Scheune. Es hätte durchaus eine menschliche Stimme sein können, wenn ein Mensch jemals so unglaublich alt werden könnte. Nachdem das Geräusch wie im Sand versickerndes Wasser verstummt war, herrschte wieder absolutes Schweigen; es war aber ein betretenes, angespanntes Schweigen, denn der Grabhügel war unwiderruflich erwacht.
    »Der Zauberer sagt, wir sollen es mit Schafezählen versuchen«, schlug die zweite Stimme vor.
    »Das hab ich selbst gehört«, warf die dritte Stimme ein, »Schafe zählen … das grenzt doch an Sodomie. Seit ich hier unten bin, hab ich genügend Schafe gezählt, um mit deren Fellen das gesamte fränkische Reich einkleiden zu können. Ach, zum Teufel damit! Mach doch mal einer ein Fenster auf.«
    Man hörte ein knarrendes Geräusch und dann das Knacken von langentspanntem Holz.
    »Scheiße!« zischte die erste Stimme. »Irgendein Witzbold hat die Leiter weggenommen.«
     
    Der alte Mann grinste, wobei seine gelben Zähne zum Vorschein kamen, und zerschnitt das letzte Seil der Plane. Zwei seiner Männer zogen sie beiseite, während die anderen Mitarbeiter des Vermessungsteams, die in Erwartung unverhofften Reichtums allesamt zurückgekehrt waren, mit Müllsäcken daneben standen. In ungefähr fünfzehn Minuten würden sie alle vermögend sein. »Kannst du irgendwas sehen, Dougal?« fragte jemand. Der alte Mann grunzte nur und kroch in das Loch hinein. Einen Augenblick später schnellte er
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