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Wer hat Angst vor Beowulf?

Wer hat Angst vor Beowulf?

Titel: Wer hat Angst vor Beowulf?
Autoren: Tom Holt
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erlernen, hatte sich der Gott Odin auf seinem eigenen Altar ein Menschenopfer dargebracht, und seither besaßen sie die Macht, Befehle zu erteilen. Nach Hildys fester Überzeugung war es auch der Befehl dieser Runen gewesen, der sie – via New York State Academy und Cambridge – den ganzen Weg von Setauket quer über den großen Teich bis hierher getrieben hatte, um zur fragwürdigen Heldin irgendeines letzten Streifzugs durch die Vergangenheit zu werden.
    Der fremdartige Zauber, der von diesem Schmuckstück ausging, verblaßte oder verwelkte nicht gänzlich, während es in ihren Händen lag – die Runen waren immer noch Runen, und die Spange wirkte immer noch märchenhaft. Eine Wikingerspange in einem Museum oder unter den Leuchtstoffröhren des Labors im archäologischen Institut war auf ärgerliche Weise zahm wie ein gefangener Löwe, der das Brüllen verlernt hatte. Draußen auf dem Hügel, wo es kalt war, brüllte der wilde Löwe, hinreißend und gefährlich, während er in der unangemessenen Umgebung eines Hotelzimmers wie ein … nun, eben wie ein wilder Löwe in einem Hotelzimmer war, in dem man Haus- oder sonstige Tiere unter keinen Umständen erlaubte.
    Vernünftig betrachtet, hieß das nichts anderes, als daß sie sich schuldig fühlte, die Spange gestohlen zu haben. Und genau das hatte sie getan – eine Tat, die sich nicht einmal der unanständigste Archäologe der Welt zutrauen würde. Warum also, fragte sie ihren Koffer, habe ich das bloß getan?
    »Ich muß sie wieder an ihren Platz bringen«, sagte sie laut.
     
    Das einzige Auto, das man in Lairg mieten konnte, war ein relativ großer Kleinbus, der allem Anschein nach aus derselben Zeit wie das Langboot Naglfar stammte und ungefähr ebenso praktisch war, wenn es um die Bewältigung schottischer Landstraßen ging. Ihre Lage erlaubte es Hildy aber nicht, wählerisch zu sein. Mit einer Generalstabskarte auf dem Beifahrersitz brach sie nach Rolfsness auf, um die Spange in den Grabhügel zurückzubringen, bevor das Team von St. Andrews dort eintreffen würde. Während sich die absichtlich mit Schikanen versehene Straße zwischen den grauen Hügeln entlangschlängelte, merkte sie, daß ihr Vorsatz wie altertümliches Pergament zerbröselte. Das ungezähmte Tier befahl ihr, es in seinen natürlichen Lebensraum zurückzubringen und nicht dorthin, wo es Herren mittleren Alters, die längst Karriere gemacht hatten, finden und begutachten würden, um es für irgendwelche Thesen oder wissenschaftliche Abhandlungen auszuschlachten.
    Sie stoppte den Kleinbus und sah sich die Spange noch einmal an. Der Ausdruck des Drachen hatte sich nicht verändert. Nach wie vor waren seine Granataugen rot und glühend wie Eisen auf dem Amboß. In Übereinstimmung mit den Erfordernissen der Symmetrie und Formgebung waren die Lippen noch immer zu diesem arrogant-spöttischen Halblächeln gekrümmt. Plötzlich wurde Hildy bewußt, daß im Zusammenhang mit dem Besitz dieses außergewöhnlichen Stücks Blut vergossen worden war, und sie war überzeugt, daß seinetwegen ohne weiteres wieder Blut fließen könnte.
    Lautes Hupen und deutlich vernehmbare Flüche hinter ihr, nicht in Altnorwegisch, sondern in modernem Schottisch, weckten sie aus ihrer selbsthervorgerufenen Hypnose. Krachend legte sie den ersten Gang ein und fuhr mit dem Kleinbus auf den Seitenstreifen, um den Lastwagen der Müllabfuhr vorbeizulassen. Sie kam sich jetzt ausgesprochen lächerlich vor; die Stimme in den Runen verstummte und ließ sie mit ihrer Verlegenheit allein. Drachenspangen zuzuhören, sagte eine andere Stimme in ihrem Kopf, die ihr noch viel vertrauter war, ist nur einen Schritt davon entfernt, mit Drachenspangen zu sprechen – und dafür bringt man dich schließlich an einen Ort, wo die Leute sehr nett und verständnisvoll zu dir sind und wo die Drachen eventuell sogar antworten. Sie stopfte die Spange zurück in ihre Tasche und löste die Handbremse.
     
    Als sie Rolfsness erreichte, war es schon fast dunkel, aber die neue, vernünftige Hildy Frederiksen trotzte der Dämmerung, so wie sie sich allen anderen Auswirkungen von Zauberei zur Wehr setzte. Nachdem sie den Bus unter einer einzelnen Eberesche geparkt hatte, trabte sie eilig zu dem Grabhügel hinüber. Über dem Loch befand sich keine Plane, und von der Polizei war keine Spur zu sehen. Sofort kehrte ihr archäologischer Instinkt zurück, und das um so mehr, da er jetzt geradezu herausgefordert wurde. Sie bekam panische Angst, daß der
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