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Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt

Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt

Titel: Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt
Autoren: Mechtild Borrmann
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Prolog
    Dünn sind die Tage. Dünn wie Eis auf einem Weiher, wenn die Sonne danach greift. Dann kann man sich nicht mehr hinauswagen, muss an der Uferböschung bleiben und die Füße ganz vorsichtig setzen. Kleine Schritte in die Stille stellen und warten, ob dieses verräterische Knacken zu hören ist.
    Sie geht schon lange auf diese Art. Mit dieser tastenden Vorsicht. Sehnt sich nach einem langen, kalten Winter, der alles, was gewesen ist, unter einer Schneedecke begräbt und dem Weiher eine Eisfläche von tiefer Festigkeit gibt. Aber diese Winter gibt es in ihrem Leben nicht mehr. Winter, in denen ein Neuanfang wohnt.
    Im Rückblick verschwimmen die Dinge, aber wenn sie auf den Weiher sieht, weiß sie, dass sie nie mitten auf der Eisfläche gestanden hat. Schon als Kind hatte sie diese Schwäche erkannt, diese Unvollkommenheit gespürt. Sie gehörte zu ihr wie ihre zierliche Gestalt, die blassblauen Augen und das feine Haar von unbestimmtem Braun. Nichts an ihr war je deutlich hervorgetreten, weder eine Äußerlichkeit noch eine Gabe. Als sie sechs war, ging der Vater, weil sie so war. Die Mutter ertränkte ihren Kummer quartalsweise im Alkohol, weil sie so war.
    Gleichmut hatten es ihre Lehrer in der Oberstufe genannt. Das hatte ihr gefallen. Es hatte ihr gefallen, weil das Wort „Mut“ darin versteckt war. Sie selber hatte sich als eine Wartende gesehen. Ohne zu wissen worauf, hatte sie sich immer als eine betrachtet, die warten musste, deren Zeit noch kommen würde. Ihr Leben lag immer in der Zukunft, war immer mindestens einen Tag von ihr entfernt. Diese fast stoische Geduld schöpfte sie aus einer Art Schicksalsgläubigkeit. Manchmal hatte sie gefürchtet, sie könne den Augenblick verpassen. Den Augenblick verstreichen lassen, der sie berühren und verändern würde. Wie ein Erwachen hatte sie es sich vorgestellt.
    Dabei hatte sie nie nach den Sternen gegriffen. Nicht mal in ihren Tagträumen hatte sie es gewagt, ihre Unscheinbarkeit außer Acht zu lassen.
    Mit dreizehn verband sie ihr zukünftiges Glück mit einem Mann. Ein Mann, dem sie alles sein würde und der sie dafür lieben könnte. Sie malte sich ein kleines Haus mit Garten aus. Sonntage auf der Terrasse. Der gedeckte Kaffeetisch zwischen zwei Spalieren, an denen Kletterrosen rankten. Kletterrosen, die das Glück vor den Blicken der Nachbarn schützten.

1
    Der 21.04.2005 war ein regnerisch kalter Frühlingstag. Ein Donnerstag. Das nasse Kopfsteinpflaster der Fußgängerzone glänzte am Abend unter den Straßenlaternen, feiner Regen tanzte in den Lichtkegeln. Die Stadt war wie ausgestorben. Die letzten Gäste der kleinen Pizzeria „Gambero“ hatten sich auf den Heimweg gemacht. Roberta füllte die Theke auf, spülte die letzten Gläser und wickelte noch schnell ein paar Bestecke für den nächsten Tag. Vittore saß mit dem Kassenstreifen, den Kellnerportmonees und dem Taschenrechner am Ecktisch und machte bei einem Glas Chianti den Tagesabschluss. An der Theke tranken Carmen, die Aushilfskellnerin, und Luca, Robertas Neffe, ihr Feierabendbier. Luca musste noch bis zum Herbst auf seinen Studienplatz in Mailand warten, und Vittore hatte ihm angeboten, in der Zwischenzeit bei ihm zu arbeiten.
    Auf dem Buffet lief der Fernseher ohne Ton. Der neu gewählte Papst. Rom. Der Petersplatz. Mikrophone wurden vor Gesichter gehalten. Luca und Carmen sahen schweigend den stummen Bildern zu.
    Vittore hatte am Wochenende vorgezogene Narzissen und Tulpen in Töpfen gekauft und den alten Leiterwagen vor der Eingangstür damit bepflanzt.
    „Es ist April“, hatte er geschimpft, „und wenn der Frühling nicht kommt, dann hole ich ihn jetzt!“ Roberta hatte gelacht. „Ach, Vittore. In den Nachrichten sagen sie, dass es sogar noch Nachtfröste geben kann. Dann friert uns alles kaputt!“ Seither rollte er jeden Abend den schweren Wagen über Nacht vor den überdachten Eingang.
    Als Roberta ihn daran erinnerte, blieb Vittore über seine Abrechnung gebeugt und knurrte: „Wenn es regnet, wird es ja wohl nicht frieren!“ Dann sah er auf. „Luca. Carmen. Könnt ihr ihn ein Stück näher an die Wand ziehen, sonst kommen die Lieferwagen morgen früh nicht vorbei.“ Die beiden gingen hinaus, stellten sich zu beiden Seiten der Deichsel und schoben das schwere Gefährt näher an die Hauswand. Mehrere Male zogen sie ihn wieder vor, um den richtigen Einschlagwinkel zu finden. Carmen lachte. „Wo hast du denn das Einparken gelernt?“, neckte sie Luca.
    Das Auto, das mit
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