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Wer braucht schon Liebe

Wer braucht schon Liebe

Titel: Wer braucht schon Liebe
Autoren: Denise Deegan
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Wenn ich (überhaupt) irgendetwas gesagt hätte, dann dass ich (a) nicht verrückt bin und (b) keine Analyse brauche. Aber ich wusste, sie würde auch das analysieren. Und ich hatte sowieso beschlossen, nicht zu kooperieren. Ich ging nur hin, weil der Rockstar es so wollte. Als wir unterwegs zu ihr waren, wurde mir klar, warum – damit er nicht selbst mit mir reden musste.
    Ich saß auf einer Couch. Sie saß mir gegenüber. In einem Zimmer im vorderen Teil ihres Hauses. Es war gelb. Auf dem Tisch zwischen uns lagen Taschentücher. Als würde sie erwarten, dass ich weine. Also lachte ich. Sie sah mich lange an. Also sah ich auf den Boden. Unter dem Tisch lagen Krümel. Die zählte ich. Ich bin fünf Mal zu der Psychologin gegangen (genug, dass der Rockstar dachte, ich hätte es versucht) und immer waren da die Krümel. Ich saß da und zählte sie. Jedes Mal. Ich versuchte, mir vorzustellen, von wem die waren. Von einem fünfzehnjährigen Sohn, der Kekse mag. Schokoladenkekse. Wahrscheinlich war er da nicht der Einzige. Hinter den Doppeltüren rechts malte ich mir ein Esszimmer voller Gäste aus – Leute wie Betsy, in mittlerem Alter und überaus intelligent. Sie würden über Kunst reden und über unbekannte osteuropäische Schriftsteller. Ich fragte mich, ob sie je über Leute wie mich redete – über ihre Patienten, Klienten oder wie sie uns nennt. Ich kam zu dem Schluss, dass sie nicht viel über mich sagen könnte, wenn man bedenkt, dass ich nie ein Wort über mich verloren habe. Aber wegen ihren anderen Patienten war ich wütend, wegen denjenigen, die kooperierten. Ich wollte ihr sagen, dass es unprofessionell ist, ein und dasselbe Zimmer für Berufliches und Privates zu nutzen. Ich wollte ihr sagen, dass sie ihren Vorgarten aufräumen, ihren Türklopfer polieren und sich einen ordentlichen Haarschnitt machen lassen soll. Aber ich habe nie etwas von alledem gesagt. Ich habe überhaupt nie etwas gesagt. Erst als ich nicht mehr hingehen musste, stellte ich fest, dass es mir tatsächlich geholfen hatte. Während der ganzen Stunde, die ich dort gewesen war, war ich so beschäftigt gewesen, mich von Betsy abzulenken, dass ich ganz vergessen hatte, traurig zu sein wegen meiner Mum.
    Sarah simst nicht zurück. Wahrscheinlich hat sie kein Guthaben mehr. Oder sie steht unter der Dusche. Ich hole meinen Laptop heraus und schreibe sie im MSN -Chat an. Von unten wieder Gelächter. Ich stelle mein iPhone auf Lautsprecher. Ganz laut. Und ich rufe auf meinem Laptop die Spiele auf. Solitär ist mir zu traurig. Schach ist ein Kampfspiel. Und ich habe Lust auf einen Kampf. Ich stelle den Computer weg und hole mein eigenes, total abgegriffenes Schachbrett unter dem Bett hervor. Als ich noch klein war und wir mit ihm auf Tour gegangen sind, hat der Rockstar oft mit mir gespielt, um die Zeit totzuschlagen. Er hat mir immer Weiß überlassen, damit ich den ersten Zug machen konnte, aber ansonsten hat er es mir nie leicht gemacht. Seine Lieblingsfiguren waren die Springer, weil es schwierig ist, sie kommen zu sehen. Damals habe ich zu ihm aufgeschaut. Er konnte die Menschen dazu bringen, dass sie sangen, tanzten, schrien, klatschten, weinten, dass sie Sachen anzündeten und sie in den Himmel hielten. Aber danach schaltete er den Rockstar immer aus und war wieder Dad, der Mensch mit den warmen Augen und den Umarmungen, der Mensch, der mich liebte. Als wir aufhörten, mit ihm auf Tour zu gehen, hörte auch das Schachspielen auf. Und als Mum starb, hörte er auf, mein Dad zu sein. Er gab einfach auf. Er ist immer noch der Rockstar. Aber das bedeutet mir nichts.
    Ich stelle die Figuren auf. Ich überlasse ihm Weiß und stelle einen seiner Springer aufs Schlachtfeld. Dann drehe ich das Brett herum und mache meinen Zug, spiele mein Spiel. So geht es hin und her, ich plane Angriff und Gegenangriff. Ich töte. Gerade habe ich ihm einen Turm genommen, da klopft jemand an die Tür. Ich werfe die Decke über das Brett und greife nach meinem Handy. Ich lasse mich nach hinten aufs Bett fallen und tue so, als würde ich simsen. Die Tür geht auf. Ich zähle bis drei, dann schaue ich hoch. Ich setze meine perfekt einstudierte gelangweilte Miene auf, und trotzdem hoffe ich, dass alles wieder normal wäre. Dass er wieder mein Dad wäre. Nicht der Rockstar.
    Aber seine Augen sind ausdruckslos, nichts mehr darin von dem Dad, den ich mal kannte. Plötzlich nervt mich alles an ihm. Muss er wirklich rumlaufen wie ein Penner? Seine Haare sind lang und
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