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Wenn Wir Tiere Waeren

Titel: Wenn Wir Tiere Waeren
Autoren: Wilhelm Genazino
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Nichtverstehen hindurch sehnte ich mich nach Marias Brüsten. Die Flucht gelang ausgezeichnet. Ich litt darunter, dass das Leben so sonderbar gemischt war und schon deswegen im Kern unverständlich. Aber ich sagte mir: Ich liebe ihren Busen und ihr kindisches Quieken beim Vögeln. Eine knappe Woche später steigerte sich Marias Angst zu einer schon fast bedrohlichen Zudringlichkeit. An einem Samstagmorgen kam sie mit der Wochenendausgabe der Zeitung zu mir und sagte: Wir wollen für dich eine Stelle suchen. Ich war verdutzt und wusste eine Weile nicht, wie ich mich verhalten sollte. Aber dann schlug Maria die Seiten mit den Stellenangeboten auf und sagte schon bald: Eine Computerfabrik sucht einen Social Investor! Hochschulbildung erwünscht! Soll ich dir helfen bei der Bewerbung?
    Ich kriegs schon allein hin, sagte ich.
    In Wahrheit wusste ich nicht einmal, was ein Social Investor war. Die Situation ähnelte entfernt einer Szene, die ich mit siebzehn mit meiner Mutter erlebt hatte, als ich auf dem Gymnasium gescheitert war. Auch meine Mutter blätterte die Zeitung durch und sagte: Eine Supermarktkette sucht gleich mehrere Einzelhandelskaufleute! Damals hatte ich an dieser Stelle des Gesprächs einen Einspruch gewagt. Weißt du, was Einzelhandelskaufleute machen? Das sind ganz junge Leute, die nachschauen müssen, ob sich noch genug Gurkengläser und Milchtüten in den Regalen befinden! Das ist alles! Aber leider wusste ich nicht, womit ein Social Investor seinen Tag hinbrachte. Als ich zu lange schwieg, sagte Maria: Dein Leben darf keine Katastrophe werden!
    Mein Leben wird keine Katastrophe, sagte ich.
    Es war schon einmal nahe dran, sagte Maria.
    Ich hatte nicht gedacht, dass sie einen derart hinterhältigen und bösartigen Satz sagen konnte. Ich schwieg eine Weile, dann stand ich auf und ging auf die Toilette. Ich erinnerte mich, dass meine Mutter ebenfalls auf die Toilette ging, wenn mein Vater ihr zu sehr zusetzte. Maria und ich sind in der Toilettenphase angekommen, dachte ich unfroh. Die Toilette war die kürzeste mögliche Flucht und die kürzeste mögliche Rückkehr. Tatsächlich klopfte es nach einer Weile an der Tür. Kommst du bitte, sagte Maria. Ich verließ die Toilette, setzte mich zurück an den Tisch und glotzte auf die Zeitung. Das Glotzen auf die Zeitung war die schnellste mögliche Beschäftigung nach der Rückkehr von der kürzesten möglichen Flucht. Maria entschuldigte sich.
    Du erpresst mich mit deiner Lebensangst, sagte ich.
    Mit meiner Lebensangst? Wenn schon, dann mit deiner Lebensangst, antwortete sie.
    Ich will weder mit deiner noch mit meiner Lebensangst erpresst werden, sagte ich.
    Weißt du, was für ein Gefühl ich habe? fragte sie.
    Ich ahne es.
    Ich sag es trotzdem: Ich habe Angst, dass du nichts tust und dich hängenlässt.
    Also doch, sagte ich, du erpresst mich mit deiner Lebensangst.
    Daraufhin schwieg sie eine Weile. Wir saßen uns gegenüber und sahen auf den Boden. Auch diese nach unten gerichteten Blicke waren mir aus meinem Elternhaus vertraut. Ich war erstaunt, wie unoriginell das Leben wieder war. Nach einiger Zeit blies ich mir mit ein paarLuftstößen das Haar aus der Stirn. Es fiel wieder zurück in die Stirn. Jetzt griff ich mit der Hand ins Haar und schob es nach hinten.
    So kommen wir nicht weiter, sagte Maria.
    Ich bin nicht siebzehn und du bist nicht meine Mutter, sagte ich.
    Und was soll jetzt geschehen?
    Ich kann nicht zaubern, sagte ich blöde.
    Jetzt war Maria beleidigt. Sie sagte eine Weile nichts, dann erhob sie sich. Ich forderte sie nicht auf zu bleiben. Wieder hatte ich das quälende Gefühl, wir seien Laiendarsteller und spielten ein unspielbares Stück. Maria zog ihr Sommerjäckchen an, nahm ihre Handtasche und ging. Eine unerlaubte Erleichterung übermannte mich, obwohl meine Unruhe nicht verschwand. Ich sah aus dem Fenster und wartete auf nichts. Dann fragte ich mich, ob ich jetzt wieder allein war und ob ich mir eine andere Frau suchen musste. Dabei war ich mir sicher gewesen, dass sich das Herumsuchen nach einer Frau für mich für immer erledigt hätte. Tatsächlich fragte ich mich, ob ich Karin oder gar Thea anrufen sollte. Aber was hätte ich ihnen sagen sollen? Sie hätten schnell bemerkt, dass ich sie als eine Art Aushilfe missbrauchte, und diese Blöße wollte ich mir nicht geben. Vom Fenster aus sah ich ein junges Paar, das eng umschlungen vorüberging und in dauernder Mundnähe miteinander sprach. Es bedrückte mich, dass ich neidisch
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