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Wenn Wir Tiere Waeren

Titel: Wenn Wir Tiere Waeren
Autoren: Wilhelm Genazino
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mal wieder zu quälen versucht, und es hatte mich Kraft gekostet, diesen Versuchungen zu widerstehen. Wenn ich nicht von ihm abhängig gewesen wäre, hätte ich ihn manchmal einfach stehenlassen können und sollen. Aber das traute ich mich nicht. Noch dazu litt ich unter mehreren heimlichen Grundgefühlen, von denen mich einige sogar versteckt leiteten. Eines davon war die Überzeugung, dass ichvom Leben ein wenig zu schlecht behandelt wurde. Eine Weile war ich der Versuchung nahe, aber dann siegte wieder meine Angst. Das heißt, ich fürchtete mich davor, dass der Trick über kurz oder lang auffliegen würde, und dann hätte ich ein Strafverfahren am Hals. Das wäre meiner Meinung nach auch Autz zugestoßen, wenn er nicht rechtzeitig gestorben wäre. Ich hatte ihn mehrfach gewarnt, aber er lachte nur über meine Bedenken. Bei ihren hunderttausend Bestellungen, hatte er ausgerufen, dauert es doch monatelang, bis sie solchen Irrläufern nachgehen können, wenn sie sie überhaupt bemerken! Sehr viele Delikte, hatte ich geantwortet, wären tatsächlich hundertprozentig sicher, wenn die Täter nicht glauben würden, sie könnten diese Delikte einfach wiederholen. Erst die Wiederholung macht ein Delikt zweitklassig und damit gefährlich, hatte ich hinzugefügt. Autz war beeindruckt von meinem Argument, aber gleichzeitig war er viel zu verliebt in den Erfolg seines Tricks.
    Inzwischen waren meine Augen wieder trocken. Ich betrachtete alte knochige Männer, aus deren breiten Shorts lächerlich magere Beine herausragten. Eine junge Frau radelte vorüber und leckte während des Fahrens ein Eis, ich schaute ihr nach. Es gab in diesen Augenblicken nichts Schöneres als den Anblick einer Frau, die mit wehendem Blondhaar und aufgerecktem Körper auf dem Rad vorüberhuschte. Nein, es gab einen noch schöneren Anblick. Ich sah ihn auf dem Friedrich-Ebert-Platz. Dort stand eine große, schwere Ente auf einem Fuß, mit geschlossenen Augen, offenbar im Stehen schlafend. Ich war begeistert. Gab es das überhaupt? Eine mitten in der Stadt im Stehen schlafende Ente? Ich näherte mich dem Tier, und ich sah, dass alles mit rechten Dingen zuging. Das Tier hatte ein Bein anseinen Körper hochgezogen und hielt trotzdem sein Gleichgewicht. Mit mir staunte ein älterer Mann. Der Mann trug ein peinliches Freizeithemd über der Hose. Er hob seine linke Hand in die Höhe und betrachtete seine zerschundenen Fingernägel. Besonders seinen blauschwarz aufgewölbten Daumennagel sah er lange an. Es handelte sich um einen langsam zurückgehenden Bluterguss. Plötzlich sah ich eine alte Zahnbürste, die dicht neben der Ente auf dem Beton lag. Ich verlor die Aufmerksamkeit für die Ente, dabei hatte ich mich in dieses Bild schon fast verloren. Ja, ich wünschte mir, die Ente nachahmen zu können. Schlafend auf einem Bein in der Stadt herumstehen: dann fiele mir kein weiterer Wunsch mehr ein. Tatsächlich befand ich mich in einer Art Bedrängnis. Wenn ich Maria recht verstanden hatte, musste ich mir bis übermorgen einen neuen schwarzen Anzug kaufen. Maria hatte gesagt, dass ich in meinem alten schwarzen Sakko und der nicht ganz dazu passenden, weil nicht schwarzen, sondern nur dunkelblauen Hose zu keiner Beerdigung gehen könne. Ich bezweifelte Marias Rigorismus, aber ich fühlte mich auch hilflos. Ich hatte schon mehrere Beerdigungen mitgemacht, und jedesmal hatten mir dabei jene Menschen gefallen, die in nicht mehr ganz tadelloser Trauerbekleidung erschienen waren. Gerade das Unpassende der Trauerkleidung war das Zeichen für die Trauer. Ich erinnere mich bis heute an ein paar besonders eindrucksvolle Beerdigungen in meiner Kindheit. Meine Verwandtschaft war (ist) nicht besonders wohlhabend. Meine Tanten und Onkel, auch meine Eltern erschienen stets in mehr oder weniger notdürftig zusammengestellter Trauerkleidung. Die Kleidung drückte die Trauer über ihre eigenen Mängel aus, etwas Passenderes konnte es für eine Beerdigung gar nicht geben. Denn richtigergreifend waren nicht die Toten, sondern die Lebenden. Aber Maria sah in Autz’ Beerdigung vor allem eine Gelegenheit, mich ultimativ zu einigen Anschaffungen zu nötigen. Außer einem schwarzen Anzug brauchte ich besonders dringend etwa acht Paar neue Socken, ein neues Armband für meine Uhr, eine neue Batterie für meinen Wecker, zwei neue Hemden und einen neuen Wasserkessel. Den Satz: Wir brauchen einen neuen Wasserkessel sprach Maria mit besonderer, auch für mich hörbarer innerer Beteiligung
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