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Wenn Wir Tiere Waeren

Titel: Wenn Wir Tiere Waeren
Autoren: Wilhelm Genazino
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auch die Zurückbleibenden ein wenig todähnlicher. Karin hatte einen kleinen Buckel und einen vornübergebeugten Körper. Durch die Krümmung des Rumpfs wirkten ihre Brüste immer ein wenig wie eingesunken, wie auf der Flucht. Ich hatte mir an manchen Abenden schon vorgestellt, dass ich die Brüste von Karin gerne aus ihrer Eingesunkenheit herausholen möchte (könnte), was Karin in meiner Vorstellung gefallen würde. Überhaupt kam mir Karins kleiner Körperdefekt entgegen, weil mein eigenes inneres Gefühl, das ebenfalls von einem Handicap bestimmt wurde, mit Karins Defekt schon zu kalkulieren begann: Eine Frau mit kleinem Körpernachteil wird mit deinem Handicap gewiss freundlich umgehen. Ich hatte natürlich keine Defekte beziehungsweise nur eingebildete,die allerdings heftiger waren als wirkliche. Ich war zum Beispiel überzeugt, dass ich langweilig war und auch nicht sprechen konnte, ohne Langeweile bei anderen Menschen hervorzurufen. Deswegen redete ich, soweit möglich, nur wenig und galt als schüchtern. Als Schüchterner war ich allerdings beliebt bei vielen anderen, die wirklich schüchtern waren und in mir einen verständigen Menschen vermuteten.
    Karin sah mich nicht, sie blickte auf den Boden. Die Kapelle leerte sich von den vorderen Reihen her, so dass ich zu den letzten gehörte, die die Kirche verließen. Der Tag blieb freundlich und angenehm. Der Pfarrer schritt vorneweg und leitete die Trauerprozession zum Grab. Von den vielen Gräbern ringsum ging die übliche Heuchelei der Toten aus. Jeder sollte glauben, dass es um alle Gestorbenen schade sei. Neben mir trottete ein mir unbekannter Mann mit starkem Mundgeruch. Hinter mir gingen zwei ältere gepuderte Frauen. Ich mochte ihren Geruch, weil er mich an meine tote Mutter erinnerte. Weil mich der Mann mit dem Mundgeruch immer wieder ansprach, verdrückte ich mich in eine Reihe weiter hinten. Wenn ich mich als Kind nicht regelmäßig wusch, sagte meine Mutter zu mir: Du riechst wie ein alter Schwamm. Ich hielt diesen Satz lange für eine Zärtlichkeit. Denn ich liebte meinen kleinen Schulschwamm und seine merkwürdigen Gerüche. Erlenbach gab sich Mühe, niemanden anzuschauen. Ich wusste jetzt schon, dass ich bei der Zusammenkunft, die hinterher in einem Café geplant war, nicht dabeisein würde. Ich hatte nicht die geringste Lust, Erlenbachs Angestellten so lange nahe zu sein. Die Prozession wandelte jetzt unter schattigen Kastanienbäumen. Die Spitze des Zuges war am offenen Grab angekommen. Ich wusste nicht, ob ichmich nach vorne drängeln oder lieber im Hintergrund bleiben sollte. Es war mir unangenehm, dass ich fast ununterbrochen an Thea dachte. Ich wusste, dass sie mit einem anderen Mann zusammenlebte, den ich nicht kannte. Für mich war sie seit der Trennung so gut wie gestorben. Es gab Momente, in denen ich glaubte, es sei Thea, die hier zu Grabe getragen wurde. Plötzlich stiegen mir Tränen in die Augen, sogar ein kleiner Seufzer ließ sich nicht unterdrücken. Es war mir klar, dass ich nicht um Michael Autz trauerte, sondern tatsächlich um Thea. Ich benutzte eine fremde Beerdigung, um eine abgelebte Liebesschmach zu betrauern. Karin war bewegt und fassungslos, als sie meine nassen Augen sah. Sie hatte nicht für möglich gehalten, dass ich ihrem toten Mann so sehr verbunden war. Karin hörte mit Weinen auf und stellte sich tröstend neben mich. Als mein Schluchzen ein wenig heftiger wurde, fasste mich Karin am Arm und führte mich ein paar Schritte abseits. Natürlich sagte ich nicht, dass meine Tränen in Wahrheit Thea galten. Ich konnte in diesen Minuten nicht sprechen, aber Sprechen war auch nicht nötig. Während unseres Herumstehens wurde der Sarg in das Grab hinabgeseilt. Ich war dankbar, dass ich die Versenkung nicht aus der Nähe sehen musste. Karin löste sich von mir und stellte sich an den Rand des Grabs.
    Es war typisch für mich, dass ich, um Trauer um das eigene Leben zu empfinden, eine fremde Beerdigung benutzte. Die Verschiebung des Authentischen zog sich als deutliche Spur durch mein Leben. Nie kannst du ausdrücken, was gerade mit dir los ist, immerzu brauchst du die Hilfe von Zufällen. Der Pfarrer sprach ein Gebet, die Beerdigung ging zu Ende. Karin henkelte sich bei mir ein, worin ich eine deutliche Annäherung erkennen wollte. Wirhatten uns schon einmal heftig geküsst, auf einem Faschingsfest vor vielen Jahren, ich glaubte nicht, dass wir das vergessen hatten. Ich wollte jetzt eigentlich nach Hause, aber das wäre
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