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Wenn Wir Tiere Waeren

Titel: Wenn Wir Tiere Waeren
Autoren: Wilhelm Genazino
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    ES WAR EIN ZU WARMER , fast schon heißer Nachmittag, ich war auf dem Weg nach Hause in meine stille Zweizimmerwohnung. Obwohl ich die Häuser ringsum schon tausendmal gesehen hatte, schaute ich sie, wenn auch nur flüchtig, immer wieder gern an. Die meisten von ihnen waren alt, nicht wenige verkommen. Bei vielen waren die Fensterrahmen morsch, an anderen fehlten sogar die Türen. Ein Teil der Häuser war bewohnt, andere nicht mehr, weil der Lärm und der Staub in den Straßen zu stark geworden waren. Die Häuser lösten nur noch bei wenigen Menschen einen Bleibewunsch aus. Hier wohnten nur noch Rentner und übriggebliebene und dabei arm gewordene Witwen. Irgendwo heulte eine defekte Alarmanlage, das passierte jeden Sommer mehrmals. Eine halbe Minute lang herrschte toter Alarm, der niemand beunruhigte. Ich hatte häufig die Idee, die Alarmanlage will nur auf den Niedergang der Gegend aufmerksam machen. Ich dachte an meinen Kollegen und (in den letzten Jahren) Freund Michael Autz, der völlig überraschend gestern abend gestorben war. Er war erst zweiundvierzig Jahre alt. Karin, seine Frau, rief mich noch am selben Abend an und erzählte mir weinend, was geschehen war.
    Michael hatte sich, wie es seine Gewohnheit war, nach dem Abendessen in das Schlafzimmer begeben, um eine Weile auszuruhen. Nach spätestens einer Dreiviertelstundewürde er erfrischt und ausgeruht in das Eheleben zurückkehren. Nach fast einer Stunde, berichtete Karin, wurde sie unruhig und schaute nach ihm. Sie fand ihn, wie sie es gewohnt war, auf der Couch liegend, in eine Wolldecke halbwegs eingewickelt. Er regte sich nicht mehr. Karin rief, sagte sie, den Hausarzt, der sofort kam und den Totenschein ausstellte. Vermutlich ein Herzinfarkt. In zwei Tagen würde auf dem Hauptfriedhof die Beerdigung stattfinden. Michael war, wie ich, Architekt. Er arbeitete in einem kleineren, äußerst produktiven Architektenbüro und versorgte mich mit Aufträgen. Das war (in beruflicher Hinsicht) der einzige Unterschied zwischen uns: Er war angestellter Architekt, ich war freier Architekt. So hieß es auf dem Schild am Eingang des Hauses, in dem ich wohnte und arbeitete. Ehrlicher hätte es heißen müssen: Abhängiger Architekt. Ich war fast ausschließlich von dem Büro abhängig, in dem Autz gearbeitet hatte, und in diesem Büro wiederum war er von sechs Architekten der einzige, der Aufträge an mich vergab. Ich war über Michaels Tod mehr beunruhigt als bestürzt. Für das laufende und das kommende Jahr brauchte ich mir noch keine Sorgen machen, aber für die Zeit danach musste ich mir etwas einfallen lassen.
    Ich hatte Michael bewundert. Er war ein lebendiger, einfallsreicher, unterhaltsamer Mensch. Von uns beiden war er der Dominante, ich hatte ihm diese Rolle nicht streitig gemacht. Ich nahm an, dominante Menschen brauchen stets eine weniger lebhafte Umgebung, damit sie als Impulsgeber gut in Fahrt kommen konnten. Auch Karin, seine Frau, war in jeder Hinsicht unauffällig. Sie bewunderte ihn ebenfalls, und er bedankte sich bei ihr mit aufrichtiger Zuwendung, wenn man das so sagen kann. Während ich ruhiglief, stieg mir eine merkwürdige, fast süßliche Feuchtigkeit in die Augen. Ich war überrascht und in gewisser Weise überfordert. Ich bog ab in eine leblose Seitenstraße, damit niemand meine angenässten Augen sehen musste. Erst vor ungefähr vier Wochen hatten Autz und ich während eines Spaziergangs einen fremden Personalausweis gefunden. Wir hatten ihn fast gleichzeitig entdeckt, wir hatten uns gleichzeitig nach ihm gebückt, aber Autz hatte ihn zuerst in der Hand. Damals hatte ich mich geärgert, heute war ich froh drum. Denn schon nach wenigen Tagen kam Autz auf die Idee, auf den Namen des Besitzers des Personalausweises bei Versandhäusern Waren zu bestellen und sie sich postlagernd liefern zu lassen. Der Postbeamte verglich nur den Namen des Empfängers auf dem Paket mit dem Namen im Ausweis – und schob das Paket über die Theke. Auf diese Weise hatte Autz schon einen Toaster, ein Bügeleisen und eine Kaffeemaschine bestellt und erhalten. Die Rolle von Autz’ Ehefrau war undurchsichtig. Einerseits mahnte sie ihn, mit seinen Faxen aufzuhören, andererseits hatte sie Freude daran, was für ein Früchtchen ihr Ehemann doch war.
    Autz hatte mich ermuntert, den Ausweis ebenfalls zu benutzen, ich hatte mich geweigert – ein wenig lauwarm, wie ich zugeben muss. In gewisser Weise war ich erleichtert, dass Autz gestorben war. Er hatte mich immer
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