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Wenn Wir Tiere Waeren

Titel: Wenn Wir Tiere Waeren
Autoren: Wilhelm Genazino
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muss man wieder gehen. Wenn man sehr viel Schönheit auf einmal gesehen hat (zum Beispiel Venedig oder den lieblichen Vordertaunus) und dann mit leeren Händen verschwinden muss, wird der Mensch ein wenig schwermütig. Deshalb war es sinnvoll, sich mit kleineren Mengen Schönheit zu begnügen. Das Problem im Augenblick war, dass ich mit mir nicht einig wurde, ob eine weitgehend freiliegende Frauenbrust eine kleine oder schon eine größere Schönheit war. Während meiner Gedanken zum Thema Schönheit hatte der Regen draußen stark nachgelassen. Außerdem war ein Mann im Vorraum erschienen und hatte die Doppeltür zum Kinosaal geschlossen. Ich stellte mich hinter die Schwingtüren des Ausgangs und sah hinaus auf die Straße. Der Säugling hatte offenbar genug getrunken und wurde von seiner Mutter in den Kinderwagen zurückgelegt. Auch in mir rührte sich die Idee, dass ich vielleicht Hunger haben könnte. Es war Frühabend geworden, die Stadt leerte sich. Ich überlegte, ob ich an der Imbiss-Theke eines Kaufhauses eine Suppe zu mir nehmen oder ob ich mir in einer Metzgerei einen Fertigsalat für zu Hause mitnehmen sollte.
    Kaum hatte der Regen aufgehört, ließen sich große Krähen auf dem Gehweg nieder und suchten nach Nahrung. Einige der Vögel spazierten in der Mitte der Straße, wasmir gefiel. Die Frau verließ mit Kind und Kinderwagen den Vorraum, ich schaute beiden nach und hatte dabei wieder diesen Schmerz im Oberkörper. Die Nähe des Kinos führte jetzt dazu, dass ich an meine tote Mutter dachte. Sie hatte von Zeit zu Zeit verkündet, dass sie demnächst zum Film gehen werde. Zum Film gehen war in meiner Kindheit eine Redensart vieler Hausfrauen. Meine Mutter war schön und eine regelmäßige Leserin der Zeitschrift »Film und Frau«, eine merkwürdige Zeitschrift, die von Monat zu Monat aus dem Leben von Filmschauspielerinnen berichtete und fast ausschließlich von Frauen gelesen wurde, die noch nicht beim Film waren. Ein Hund mit einem verbundenen Bein lief vorüber. Das verbundene vierte Bein hielt er nach vorne von sich weg. Er konnte tatsächlich auch auf drei Beinen gut laufen. Ich kannte in der Nähe eine überteuerte Boutiquen-Metzgerei, wo ich einen Fertigsalat (mit Käse und Ei) verlangte. Kaum hatte ich ihn erhalten, schämte ich mich seiner. Ausgerechnet ich, der sich auf seine Individualität so viel zugute hielt, ging wie ein x-beliebiger Massenmensch mit einem Fertigsalat nach Hause. Eigentlich hatte ich mir einen neuen Anzug und vielleicht sogar ein neues Bett kaufen wollen, aber es hatte nur zu einem Fertigsalat in einem scheußlichen Plastikbehälter gereicht. Jetzt trug ich mein Fertigschicksal in meine Fertigwohnung, wo ich einen Fertigabend vor dem Fernsehapparat verbringen würde. Es sei denn, Maria würde mich anrufen, womit leicht zu rechnen war. Mit Maria verband mich eine unangenehm vielschichtige Empfindung. Eigentlich wünschte ich mir seit längerer Zeit eine andere Frau, eine solche war jedoch nicht in Sicht. Eigentlicher noch war ich mit Maria zufrieden, ja, vermutlich liebte ich sie inzwischen. Ich suchte eine Frau, derenAnwesenheit ich ohne Fluchtgedanken ruhig ertrug. Diese Frau war Maria nicht. Sie hatte ein Problem, das allmählich auch meines wurde: Sie trank zuviel. Seit Jahren brachte sie, wenn sie mich abends besuchte, ein oder zwei Flaschen Wein mit. Ich nahm an, Maria wollte, dass ich irgendwann genauso leben würde wie sie. Ich sollte den Abend mehr oder weniger alkoholisiert zubringen und dann ein wenig benommen neben ihr einschlafen. Aber Maria schaffte es nicht, ich war kein Trinker. Ich durfte ihr nicht sagen, dass es mir ein gewisses Vergnügen machte, die nicht mehr ganz ihrer Sinne mächtige Maria neben mir liegend zu betrachten. Ich schätzte es auch, dass unsere Liebesabende durch Alkohol nicht allzu lange dauerten. Es war mir recht, wenn ich nicht gar zuviel reden musste. Die meisten Menschen hatten in alkoholisiertem Zustand ein starkes Redebedürfnis, aber nicht viel Ausdauer. Rasch wurde Maria müde und schlief häufig während ihres heftigen Redens ein.
    Und wenn sie fest eingeschlafen war, zog ich mich manchmal wieder an, verließ die Wohnung und traf mich mit ein oder zwei Kollegen in einer Kneipe. Dieses Verhalten war Maria besonders verhasst. Sie hatte die Vorstellung, dass zwei Menschen nach einem Beischlaf gemeinsam gestimmt waren, und sei es im Schlaf. Meine postkoitalen Ausflüge machten mir bewusst, dass ich Maria nicht leicht ertrug. Obwohl
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