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Wenn Wir Tiere Waeren

Titel: Wenn Wir Tiere Waeren
Autoren: Wilhelm Genazino
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Die Beerdigung von Autz war für übermorgen angesetzt, und es wurde immer wahrscheinlicher, dass ich in meinen ältlichen Kleidern daran teilnehmen würde. Ich gefiel mir in meinen nicht mehr ganz frischen Kleidungsstücken. Ich sah aus wie ein aus früherer Zeit übriggebliebener Herr. Maria würde nicht mitkommen zur Beerdigung, ich hatte sie gefragt. Es sei denn, ich kaufte mir einen neuen, wirklich schwarzen Anzug. Am Himmelzogen dunkle Regenwolken auf, ein heftiger Wind stieß über den Platz und beugte die Sträucher in den Gärten. In dem Kino Excelsior lief ein Film mit dem Titel »Flucht ohne Ende«. Wenn ich jetzt ins Kino gegangen wäre, hätte ich den neuen Wasserkessel eineinhalb Stunden lang in den Händen halten müssen. Dennoch betrat ich den leeren Vorraum des Kinos. Durch eine offene Doppeltür sah ich in den Vorführraum und erblickte sechs oder sieben vereinzelte Zuschauer. Warum gehen so viele einsame Männer ins Kino? Ich sah kein einziges Pärchen oder zwei alternde Frauen nebeneinander. Durch den Anblick der reglosen Männer verwandelte sich der Vorführraum in einen Wartesaal für Hilfsbedürftige. Als hilfsbedürftig wollte ich auf keinen Fall gelten, nicht einmal in einem halbdunklen Kinosaal. Die alleinsitzenden Männer sahen zu krankenhausmäßig aus. Wahrscheinlich wartete der Kinobesitzer, bis die Vorstellung angefangen hatte, dann würde er die evangelische Seelsorge anrufen und sagen: Hier sitzen sieben Gefährdete, wollen Sie nicht mal vorbeischauen? So dachte ich vor mich hin und verließ den Vorraum. Draußen sah es inzwischen nach einem Gewitter aus. Der Himmel war dunkler geworden und der Wind biestiger. Ein weinendes Kind wurde im Kinderwagen schnell vorübergefahren. Vögel flogen nervös auf und ließen sich drei Meter weiter erneut nieder. Die schweren Tauben sahen meinen schon lange toten Tanten ähnlich. Kein Tier kann ratloser schauen als eine Taube. Ein Mann öffnete eine Mülltonne nach der anderen, fand aber nichts. Es war Hochsommer geworden. Als ich noch mit Thea zusammen war, fuhren wir jedes Jahr weg. Seit Thea aus meinem Leben verschwunden war, hatte ich mir den Urlaub abgewöhnt. Beziehungsweise, es war niemand mehr aufgetaucht, der michJahr für Jahr in den Urlaub zwang. Maria drängte zwar auch in den Urlaub, aber gegen sie konnte ich mich seltsamerweise durchsetzen.
    Soeben fielen die ersten Regentropfen. Es waren große, schwere Tropfen, die auf einen Platschregen schließen ließen. An einigen Fenstern erschienen Hausfrauen und ließen die Rolläden halb herunter. Ein Blitz zuckte über den Platz, der Regen wurde stärker. Ich drückte mich gegen eine Hauswand, die mich nicht wirklich schützte. In meiner Einfallslosigkeit lief ich zurück zum Kino. Im Vorraum saß jetzt eine stillende Mutter, die sich an mir nicht störte. Sie sah nicht einmal auf, sondern blickte ohne Unterbrechung auf den Säugling hinunter. Es ist eine erfreuliche Entwicklung, dachte ich, dass Babys in aller Öffentlichkeit gestillt werden. Der Anblick hatte auf Männer vermutlich eine erzieherische Wirkung. Sie begreifen dann besser, dass Frauenbrüste über das männliche Begehren hinaus einen ethischen Sinn haben. Diese Belehrung war (ist) gerade für mich dringend notwendig. Außer mir und der Mutter mit Kind war niemand im Vorraum. Ich schaute Filmbilder in den Schaukästen an und tat so, als würde ich mir gleich eine Eintrittskarte kaufen. Tatsächlich linste ich, so versteckt ich konnte, auf die Brust der stillenden Frau. Wenn ich Brüste (oder Teile davon) im Ausschnitt einer Frau sehe, kämpfe ich sofort gegen eine übermäßige Anziehung, auch bei schwangeren Frauen. Unter dem Eindruck des vorrückenden Bauchs treten bei schwangeren Frauen die Brüste in den Hintergrund, beziehungsweise sie werden unscheinbar, dafür aber (sozusagen) häuslicher und kameradschaftlicher. Die Brust der stillenden Frau war groß, weiß und jetzt fast ganz freiliegend. Mein Vergnügen (meine Lust) floss frei zwischen der Frau und mir hin und her, weildie Frau noch immer keine Anstalten machte, das Stillen zu verbergen. Obgleich mir der Anblick über die Maßen gefiel, spürte ich einen Schmerz im Oberkörper. Denn merkwürdig an der Schönheit ist, dass man sie immer nur anschauen kann. Man kann nichts davon mit nach Hause nehmen oder ein kleines Teil von ihr an einer besonderen Stelle aufbewahren. Man kann Schönheit immer nur anstarren, mehr ist nicht zu holen. Wenn man sie lange angeschaut hat,
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