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Gottesgericht

Gottesgericht

Titel: Gottesgericht
Autoren: Patrick Dunne
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    Mit zweiundzwanzig war Nazim das jüngste Mitglied des Sicherheitspersonals. Seinen Dienst im Museum versah er erst seit drei Monaten. Er hatte sich darauf gefreut, die schwarze Jacke mit dem Schriftzug ÖZEL GÜVENLIK auf dem Rücken tragen zu dürfen, war aber enttäuscht gewesen, als er von allen Stätten Istanbuls ausgerechnet für dieses Museum eingeteilt wurde. Es war früher eine christliche Kirche gewesen – sogar die größte der Christenheit, wie es hieß –, und jeder Tag, den er dort verbrachte, bedrückte ihn.
    Es gab sichtbare Zeichen ihrer muslimischen Vergangenheit – sie war zu ihrer Zeit eine Moschee gewesen –, aber eben auch christliche, und zwar welche von der Art, die jeder wahre Moslem beleidigend finden musste. Wie das Mosaik von Maria mit Jesus auf dem Schoß hoch oben in der Halbkuppel am Ende des geräumigen Museumsinneren. Er konnte es jetzt sehen, da er durch das Kaiserportal kam, das von der Vorhalle zum Hauptschiff führte.
    Aus Nazims Blickwinkel wurde das Mosaik von zwei riesigen, grün-goldenen Schilden flankiert, die in arabischer Kalligrafie die Namen Allahs und des Propheten trugen. Für ihn glichen sie das christliche Bildnis jedoch weder aus noch dominierten sie es gar, vielmehr ließ das Bild die islamischen Symbole geringer erscheinen.
    Er betrat den weiten Raum unter der gewaltigen Kuppel und machte sich daran, ihn zu durchqueren. Eigentlich sollte er oben in den Galerien Dienst tun, und er machte sich Sorgen, dass ihn jemand zur Rede stellen könnte. In der Ferne hörte er eine Frauenstimme in der betont deutlichen Redeweise einer Führung. Die Frau sprach Englisch, und Nazim wusste, dass sie eine Gruppe von Reiseveranstaltern auf einer privaten Tour durch das Museum führte. Für die Öffentlichkeit hatten sich die Türen bereits zwei Stunden zuvor geschlossen. Ein paar Kollegen Nazims sollten sich um die Besucher kümmern; sie würden noch eine halbe Stunde damit beschäftigt sein, ehe sie die Gruppe aus dem Museum geleiteten und überprüften, ob niemand absichtlich zurückgeblieben war.
    Aber dies bedeutete, dass alle Kronleuchter brannten, die über der großen Halle hingen, und daran hatte er nicht gedacht. So war er leicht zu sehen.
    »Nazim?« Wie zum Beweis hallte sein Name durch den leeren Raum. Er konnte niemanden ausmachen, aber er erkannte die Stimme. Mehmet war an diesem Abend der ranghöchste Museumswärter. Und er würde sich bestimmt fragen, was Nazim unten im Parterre verloren hatte, statt oben auf der Empore seine Runden zu drehen.
    »Tuvalet«, rief Nazim zurück und fuchtelte so beiläufig wie möglich in Richtung Toilette.
    »Bira çikmak istiyor«, sagte Mehmet. Das Bier muss raus.
    Es war etwas, das Nazim ziemlich sicher nicht gesagt hätte, da er keinen Alkohol trank. »Evet«, stimmte er dennoch zu und lachte. Denn im Augenblick durfte er nicht auffallen, sondern musste einer der Jungs sein wie alle andern. Der Jungs, die ihn immer wegen seiner strengen religiösen Überzeugungen hänselten. Und die es nach dieser Nacht nie wieder tun würden.
    Mehmet setzte seinen Weg fort, um vielleicht einen Blick auf die Besuchergruppe werfen zu können. Ob Frauen darunter waren, die zu beäugen sich lohnte.
    Nazim machte einen kleinen Umweg, um glaubhaft zu machen, dass er in Richtung Toilette strebte. Doch als er das Halbdunkel der Säulen erreichte, vergewisserte er sich, dass ihm niemand folgte, und kehrte auf seinen ursprünglichen Kurs zurück. Für alle Fälle war es sicherlich klug, noch einige Augenblicke zu warten. Er sah zur Kuppel hinauf. Die Scheinwerfer auf der Außenseite beleuchteten die Fenster, die rings um die Kuppel verliefen, und ließen sie wie eine mit Edelsteinen besetzte Krone aussehen. Für einen Moment stellte er sie sich spielerisch als fliegende Untertasse vor, die jeden Moment zu rotieren anfangen und sich in den Himmel erheben konnte. Dann fiel sein Blick auf das Mosaik eines Engels auf einem der Stützpfeiler, und er wurde wieder ernst. Nachdem es jahrelang bedeckt gewesen war, hatte man das Gesicht des sechsflügeligen Engels freigelegt, damit die Touristen es betrachten konnten, und Nazim musste Tag für Tag mit ansehen, wie die Ungläubigen es aufgeregt fotografierten.
    Er hätte keinen solchen Groll auf Christen und Juden, wenn sie ihre Religionen tatsächlich praktizieren würden. Stattdessen ließen sie zu, dass der Westen zu einer moralischen Jauchegrube verkam, wo Männer keine Autorität, Frauen keinen Anstand und
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