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Das helle Gesicht

Das helle Gesicht

Titel: Das helle Gesicht
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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    Ite-ska-wih, vierzehn Jahre alt, trug diesen Namen in der vierten Generation. Ihre Eltern hatte sie verloren; die Mutter war bei der Geburt gestorben, der Vater einige Jahre später erschlagen worden. Ihre Welt blieb Untschida, die Großmutter. Untschida hatte den Arm um das Mädchen Ite-ska-wih gelegt, als es acht Jahre alt war, und hatte ihm von der Frau erzählt, die als erste diesen Namen getragen hatte, mit Würde und nicht ohne Gefahren. Ihre Haut war von einem sanften hellen Braun gewesen, und manche glaubten, daß sie darum den Namen Helles Gesicht erhalten habe. Die aber mehr und Tiefergehendes wußten, konnten auch diesen Namen besser deuten: Das Antlitz Ite-ska-wihs war wie die Sonne, die das Herz wärmt und dem Auge Licht gibt.
    Untschida und ihre Enkelin kauerten miteinander in einer Kellerecke. Die Luft zwischen den Wänden war dumpf; es roch nach den faulenden Abfällen und dem Branntweindunst der Straße; der Gestank kam durch die Kelleröffnung herein. Es war aber ein Vorzug dieser Kellerbehausung, daß sie der Straße zu lag und nicht nach den fensterlosen Innenhöfen des Hauses. Man konnte durch die Kelleröffnung, die nicht verglast war, auf die Straße hinausklettern und von der Straße aus durch diesen Spalt hereinkriechen. Die Straße erschien den Kellerbewohnern anziehend und abstoßend, bunt, wild, gefährlich; wenn man auf der Straße stand, den Kopf in den Nacken legte und senkrecht in die Höhe starrte, vermochte man durch den Dunst einen Streifen Himmel zu sehen. Auf dieser Straße, die man in Europa eine Gasse genannt hätte, gab es Kinder, Halbwüchsige und Erwachsene, Weiße, Schwarze und Indianer, gute und böse Menschen, Betrunkene und Nüchterne, Gangster, Banditen, Dirnen, Arbeiter. Es gab Streit, Blut und Tote. Nur reiche, gut angezogene Leute gab es nicht. Sie ekelten sich vor solchen Straßen, sie mieden sie, und sie fürchteten sie, aber sie fürchteten sie auf andere Weise als die Bewohner. Denn für die Bewohner war die Straße ihr Leben, für die gut angezogenen Leute war sie nicht einmal ein Gegenstand der Neugier; sie war nicht so berühmt wie die Slums und Ghettos von New York. Sie stank, dämmerte und moderte abgeschieden vor sich hin. Ite-ska-wih kannte die Straße und hatte Angst vor ihr. Ihre Zuflucht waren die Kellerhöhle und die Großmutter; ihr Ernährer war seit dem Tode des Vaters ihr Bruder. Er war 18 Jahre alt. Tags arbeitete er unter Tarif für 230 Dollar im Monat. Wenn die Geschwister und die Großmutter Hunger hatten, stahl er des Abends in den offenen Läden der Geschäftsstraßen. Ite-ska-wih und die Großmutter hockten in der auch am Tag düsteren Ecke und träumten. Die Großmutter hatte als Kind noch die Prärie gesehen. Das mußte ein seltsames Land sein. Dort gab es keine hohen Häuser, und darum gab es auch keine Straßen. Dort gab es wundersamen Duft von Gras und weither wehendem Wind. Still war es rings.
    In der Prärie hatte einst die Frau gelebt, die als erste den Namen Ite-ska-wih erhielt. Schön war sie gewesen, ein prächtiges, besticktes Kleid aus weichem Leder hatte sie besessen. Damit ging sie zum Tanz in der Sternennacht der Prärie zusammen mit den Kriegern, Frauen und Mädchen des Stammes. Auch Ite-ska-wih, das Kellerkind der Stadt, war schon mit der Großmutter zum Tanz der Indianer gegangen. Heute wollten sie wieder miteinander dorthin gehen.
    Ite-ska-wih hatte ihr Kleid zurechtgelegt. Es war nicht aus Leder gemacht, sondern aus dünnem Baumwollstoff. Das Mädchen hatte es ein wenig bestickt, mit einem Muster, das die Großmutter ihr bei anderen Indianern gezeigt hatte. Ite-ska-wih stand auf und reckte sich, während sie ihr schwarzes Haar glatt strich und das Stirnband anlegte. Sie war ebenmäßig gewachsen, mit abfallenden Schultern, mit einem Nacken, der den Kopf stolz tragen konnte. Ihre mit dem Reiz der ein wenig betonten Backenknochen gebildeten Züge waren regelmäßig. Doch ihr Körper war von Hunger gezeichnet; was sie zu essen erhielt, hatte weder Kraft noch Frische. Ihre Haut, rein und von einem sanften hellen Braun wie das ihrer Urgroßmutter, entbehrte der Sonne; ein grauer Kellerschein lag darüber. Nur die dunklen Augen waren klar geblieben. Ite-ska-wih hielt sie mit den Lidern halb bedeckt; sie gab nie einen nackten Blick frei.
    Obgleich das Mädchen schmal, feingliedrig und mager war, schwanden ihre Muskeln und Sehnen, die sie als Kind zu Lebzeiten des Vaters hatte üben können, noch nicht. Sie war ein wildes
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