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Wenn Wir Tiere Waeren

Titel: Wenn Wir Tiere Waeren
Autoren: Wilhelm Genazino
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Bewusstsein meinte ich einmal zu spüren, wie ein Hund an mir schnupperte, was mir gefiel. Fast eine Dreiviertelstunde lang hielt mich der Schlaf gefangen. Ich muss fest geschlafen haben, denn ich merkte nicht, wie ich von dem Baumstamm nach links wegkippte und dann auf der Seite liegend und gekrümmt weiterschlief. Als ich aufwachte, fühlte ich mich erleichtert und frei, obgleich mein Körper ungelenk geworden war. In der Art, wie ich langsam zu mir kam, war mir eine halbe Minute lang nicht klar, ob ich mit Thea oder Maria verabredet war. Bis zu unseremTreffen hatte ich noch fast eine Stunde lang Zeit. Seit ich von Thea getrennt war, sah sich Maria als Siegerin eines Zweikampfs. Vor der Trennung von Thea hatte ich etliche Jahre lang Maria und Thea gleichzeitig geliebt, worüber Maria fast nervenkrank geworden war. Für die hochmütige Thea war Maria nur eine Büroliebe, die ihr nichts anhaben konnte. Jetzt gefiel es mir, dass ich an ein und demselben Tag an einer Beerdigung teilgenommen hatte und in Kürze mit Maria Austern essen würde. Durch ihren Lebensstil hatte Maria in den letzten Jahren ein wenig zugenommen, was mich nicht störte. Maria sagte, ich solle ihr sofort sagen, wenn sie für mich zu füllig würde; sie würde dann auch wieder abnehmen.
    Maria trug eine leichte helle Bluse und einen cremefarbenen Leinenrock. Sie fing an zu rennen, als sie mich sah, und sprang an mir hoch wie ein Kind. Ich hatte keinen Zweifel, dass ihre Lebensfreude echt war und tatsächlich mir galt. Sie umarmte mich und drang mit den Lippen in meinen Hemdkragen. Die stürmische Begrüßung war schön und schmerzlich. Maria konnte nicht erkennen und nicht fühlen, dass ich im Inneren ein Finsterling war, der sie eines Tages verlassen würde. Marias sich immer wieder öffnender Mund hatte die Schönheit eines immer wieder wegfliegenden Vogels. Ich verlor mich an dieses kaum zur Ruhe kommende Gesicht. Ich musste Maria helfen, vom Alkohol loszukommen, aber wie? Die Idee, bei Hertie Austern zu essen, kam von ihr. Eine derartige Neuheit wäre mir selbst niemals aufgefallen. Ich hätte wahrscheinlich ein besseres Lokal für angemessen gehalten. Aber Maria wollte den Zusammenstoß von Luxus und Spießertum beobachten. Ich hatte ihr gesagt: Wer dabei mitmacht, wird selbst zum Spießer. Das sind wir doch schon längst, hatteMaria geantwortet. Ich bin vollkommen sicher, dass Austernessen kein Hobby von mir wird, sagte ich.
    Bei Hertie fuhren wir mit der Rolltreppe in die Erfrischungsabteilung im Tiefgeschoss. Maria war schon öfter hiergewesen, sie kannte sich aus. Eine sogenannte Mittelmeertheke befand sich rechts zwischen der Frischfleischabteilung und der Bäckerei. Es handelte sich um eine stark belebte Bar mit dem Zuschnitt eines Schiffsbugs. Ich stieß mich schon an dem Wort Mittelmeertheke. Unmerklich wurden die Menschen von ihrer Umgebung zu Spießern gemacht. Diese Angst entzündete sich noch stärker am Bild der Männer und Frauen, die an der Mittelmeertheke saßen und aßen. Ich tippte auf Autohändler, Immobilienmakler, Versicherungsvertreter, Abteilungsleiter. Sie aßen tatsächlich Austern und schlürften hörbar. Es sind aufgestiegene Kleinbürger, die können sich am besten freuen, sagte Maria. Obwohl mir die Bemerkung gefiel, konnte ich mich meiner Distanz nicht erfreuen. Zum Zeichen meines Abstands bestellte ich keine Austern, sondern einen gewöhnlichen Salatteller mit Röstkartoffeln. Du bist zu empfindlich für das Hertie, sagte Maria. Die Männer flirteten mit den Bedienungen hinter der Theke. Weil eine Blondine nicht auf die Anmache der Männer einging, sagte einer von ihnen: Die Mutti ist ganz putti. Es erhob sich starkes Gelächter.
    Du meinst, die Männer glauben: Das hier ist ihre originale eigene Welt?
    Genau, sagte Maria, deswegen sind sie so positiv und fröhlich.
    Maria aß langsam ihre Austern und beobachtete die Leute ringsum.
    Als ich selber aufstieg, sagte sie, habe ich das auch geglaubt.
    Damals in der Werbung?
    Ja, antwortete sie, ich hatte dasselbe Gehabe mit Sonnenbrille, Handy, Schirmmütze und auf die Theke geknallten Autoschlüsseln.
    Wir lachten.
    Bei Frauen wirkt das besonders einschneidend, sagte Maria, das habe ich damals nicht gewusst. Dabei wollte ich nur meinen kleinen Aufstieg ein bisschen feiern. Ich war eine Schichtenwechslerin, die freuen sich am heftigsten.
    Und was macht dir heute daran noch Freude?
    Der Rückblick, sagte Maria, und die Angst um die Leute. Ich sehe ihnen an, dass sie
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