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Die Treppe im See: Mystery-Thriller (German Edition)

Die Treppe im See: Mystery-Thriller (German Edition)

Titel: Die Treppe im See: Mystery-Thriller (German Edition)
Autoren: Ronald Malfi
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Kapitel 1
     
    Es heißt, die Natur kenne kein Aussterben. Im Grunde genommen kennt sie nur die Veränderung: Nichts verschwindet jemals vollkommen, es bleibt etwas – ein Teil, einige Partikel, ein eindrucksvoller Schein – über. Man kann Wasser zu Dampf kochen, dennoch verschwindet es nicht. Scheint es sich in Luft aufgelöst zu haben, kehrt es durch Kondensation wieder.
    Mit diesem Prinzip im Hinterkopf sollte uns einleuchten, dass Entwicklungen, die sich abzeichnen – ob plötzlich oder allmählich – stets auf etwas zurückgehen, das schon immer existent war. Formen mögen sich ändern und übergehen, dennoch sind diese Dinge von Dauer. Es existiert keinerlei Schöpfung und infolgedessen auch keinerlei Zerstörung – es existiert nur die Transformation. Leben lässt sich als Aufeinandertreffen von Elektronen und Positronen begreifen, als Wechsel von Materie zu Lichtstrahlen und molekularen Strömen. Wasser zu Dampf zu Wasser.
    Mit dreiundzwanzig verfasste ich einen Roman namens The Ocean Serene. Er handelt von einem Jungen, der sich, nachdem er beinahe ertrunken war, lang verdrängte Erinnerungen ins Gedächtnis ruft, aber in Wirklichkeit ging es um meinen toten Bruder, Kyle.
    Ich schrieb ihn in den Abendstunden, an einem kleinen Schreibtisch, in meinem engen Einzimmer-Appartement in Georgetown, Washington, D.C. (direkt gegenüber einiger Universitätsgebäude und nur wenige Blocks von der Gegend entfernt, wo anno dazumal Der Exorzist verfilmt wurde.) Eine Tasse Kaffee – schwarz, ohne Zucker – sonderte neben meinem Textcomputer Dampfschwaden ab, während auf der anderen Seite ein Aschenbecher voller vergilbter Stummel von Zigaretten stand. Da die elektrische Lüftung nicht immer problemlos funktionierte, war ich gezwungen, die Schlafzimmerfenster regelmäßig zu öffnen, um frischen Sauerstoff hereinzulassen. Allerdings erinnere ich mich mehr an die zahllosen Zigaretten, und wie ich Tasse um Tasse dickflüssigen Kaffees in mich hineinschüttete, als an den Schreibvorgang.
    Ich schrieb wie benebelt, in einem Dunst … als hätte jemand die Windungen meines Gehirns sorgfältig mit Verband eingewickelt. Nach dem ersten Entwurf benötigte ich ein paar weitere Jahre und musste vor allem tief in mich hineinhorchen, bevor ich den Text erneut anpacken konnte, um ihn mit der notwendigen Ehrlichkeit zu vollenden. Aus irgendeinem Grund verspürte ich den nagenden Drang, ihn so ehrlich wie möglich zu verfassen. Als die Rohfassung stand, legte ich sie beiseite und beschäftigte mich monatelang mit anderen Dingen. Danach merkte ich, dass ich persönlich herangewachsen war – sowohl aufgrund meiner Schreiberei als auch wegen der Art, wie ich die Welt sah und interpretierte –, und überarbeitete ihn. Obwohl die Handlung als Stilübung einer spekulativen Fiktion einzuordnen war – mit anderen Worten: ein Horrorroman –, kam sie mir so wirklich wie Kindheitserinnerungen vor. Es war schwer die Vergangenheit neu zu durchleben. Das Alter bringt etwas Kryptonit mit sich, das sich in unseren Glauben frisst, wie bei Vampiren, und das Lesen des Manuskripts zerstörte mich erneut.
    Dennoch überarbeitete ich ihn fieberhaft und fand ein Ende. Als ich fertig war, wähnte ich mich von einer schweren Last befreit. Das Gefühl kam der geistigen wie emotionalen Erschöpfung gleich, die ich nach dem Tod meines jüngeren Bruders verspürt hatte. Ich konnte nicht fassen, dass mir dies während der Niederschrift entgangen war, aber hinterher traf es mich wie der Hammer den Gong. Da stand ich schließlich und wusste nicht, was ich von dem halten sollte, was ich vollbracht hatte.
    Ohne es auf Tippfehler oder Unstimmigkeiten zu prüfen, schickte ich es dem Akquisiteur-Lektor eines kleinen Spezialverlages, mit dem ich mich schon seit mehreren Monaten förmlich, aber stetig ausgetauscht hatte. Während ich darauf wartete, etwas von ihm zu hören, begann ich an mir selbst zu zweifeln – nicht wegen des Buches, sondern wegen mir – und fragte mich, ob es ein Fehler gewesen sei, ein Buch zu schreiben. Ich konnte nicht sagen, ob es als Erinnerung an meinen Bruder gedacht war, oder ob ich es billigte, ich ihn zu einer Attraktion eines Zirkus zu machen, bis jemand dafür bereit war, dafür zu zahlen.
    Wochen später, während einer hartnäckigen Regenphase, in der das Wetter so herb war, dass man annehmen konnte, die Welt bereite sich auf ihr Ende vor, ließ mich der Lektor wissen, dass das Buch angenommen wurde. Er sah einige Änderungen
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