Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis
Autoren: J Vaillant
Vom Netzwerk:
PROLOG
    TREIBHOLZ
    K leine Gegenstände sind in Alaska rar, und daher schätztesich ein Meeresbiologe namens Scott Walker glücklich, als er auf einer unbewohnten Insel fünfzig Kilometer nördlich der kanadischen Grenze auf das Wrack eines Kajaks stieß. Der Grenzbereich an der Küste, wo Alaska und British Columbia aufeinandertreffen und sich überschneiden, gleicht einer Zickzacknaht, die nicht nur zwei enorm große – und enorm verschiedene – Länder verbindet, sondern auch zwei gleichermaßen große und heterogene Wildnisse. Nach Westen erstreckt sich die gähnende Weite des Nordpazifischen Ozeans, und im Osten erheben sich die zahllosen Berge, die das Herz einer Region bilden, die manche Menschen im Nordwesten Cascadia nennen. Der Küstenstrich, an dem sich diese Welten treffen und verschmelzen, ist nur spärlich bewohnt und oft im Nebel verborgen. Niedrig hängende Wolken schneiden den Bergen die Gipfel ab. Auf Meereshöhe besteht er aus einem verschlungenen Netz tiefer Fjorde, schmaler Kanäle und mit Fels bedeckter Inseln. Es ist eine ureigene Welt, abgegrenzt vom restlichen Nordamerika durch die Küstengebirge, deren zerklüftete Gipfel den größten Teil des Jahres von Schnee bedeckt sind. An manchen Stellen fallen ihre Felswände so steil ins Meer, dass sich ein Boot nur fünfzehn Meter vom Ufer befinden und doch hundertfünfzig Meter Wasser unter dem Kiel haben kann. Menschen durchstreifen die Region nur sporadisch, und regiert wird sie von sieben Meter großen Tiden und der Aufeinanderfolge subarktischer Stürme, die sich in Spiralen aus dem Golf von Alaska hinunterwinden, um auf den lang gestreckten und von Baumstoppeln übersäten Rand des Kontinents einzudreschen. Selbst an windstillen Tagen kann es sein, dass die Küste in Nebelschleier gehüllt ist, denn dreitausend ununterbrochene Kilometer Pazifikdünung peitschen sich am störrischen Gestade zu Dunstschwaden.
    Das Zusammenspiel starker Winde, häufig auftretenden Nebels und Flutwellen, die über fünfzehn Knoten schnell sein können, macht diese Küste zu einer lebensgefährlichen Region, und wenn Boote, Flugzeuge oder Menschen sich hier verirren, ist es für gewöhnlich um sie geschehen. Werden sie gefunden, dann meistens rein zufällig, viel später und oft an einem abgelegenen Ort wie Edge Point, wo Scott Walker an einem schönen Juninachmittag 1997 seine siebzehn Fuß lange Segeljolle festmachte, um Untersuchungen des lokalen Lachsfischfangs nachzugehen. Edge Point ist eher ein alpines Geröllfeld als ein Strand und befindet sich an diesem Punkt geologischer Zeit auf Meereshöhe. Es liegt an der Südspitze von Mary Island, einem niedrigen Buckel aus Wald und Stein, der die eine Seite eines felsigen, von den Gezeiten geschmirgelten Kanals bildet, der Danger Passage heißt; das nächstgelegene Land ist Danger Island, und sie tragen ihre Namen nicht von ungefähr.
    Wie ein großer Teil der Nordwestküste ist Edge Point übersät von Treibholzstämmen und ganzen Bäumen, die durchaus anderthalb Meter Durchmesser haben und in einer Menge von zwanzig gestapelt sein können. Zu Silberglanz poliert häuft sich diese Masse Holz, das sich zum großen Teil aus Floßfeldern oder von Frachtkähnen gelöst hat, so hoch, wie die Polarwinde und die Pazifikwellen sie schleudern können. Sollte es ein von Menschenhand hergestelltes Objekt schaffen, in einem Stück das Ufer zu erreichen, wird es seine Ankunft nicht lange überdauern; innerhalb weniger Gezeitenzyklen wird es zwischen den mahlenden Stämmen und den unverrückbaren Felsbrocken unter ihnen in Stücke zerhämmert. Handelt es sich um ein Fiberglasboot – wie zum Beispiel einen Kajak –, wird es gewöhnlich völlig zerstört und ist kaum wiederzuerkennen, geschweige denn zu finden. Als man einmal eine Fiberglasjacht an einem Edge Point vergleichbaren Ort entdeckte, und zwar drei Jahre nachdem sie, ohne einen Notruf zu senden, verschwunden war, barg man ein einziges heiles Teil von einem halben Meter Länge, und das auch nur deswegen, weil es hinauf ins Gebüsch geweht worden war. Der Rest des Zwanzigmeterschiffs bestand nur noch aus Fragmenten so groß wie Spielkarten. Deswegen schätzte sich Scott Walker glücklich: Er war noch nicht zu spät gekommen, Teile des Kajaks waren möglicherweise noch verwertbar.
    Die Strände hier dienen als zusammengewürfeltes Archiv menschlicher Fertigkeiten, in dem die Mahagonitür eines Fischerboots, die Überreste eines Kampfflugzeugs aus dem Zweiten Weltkrieg
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher