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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis
Autoren: J Vaillant
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Die Nadelbäume in einem gemäßigten Regenwald wachsen stetig, solange die Temperatur über drei Grad Celsius bleibt – ein Grund dafür, dass sie so ungeheure Größe erreichen. Die Baumarten innerhalb dieser klimatischen Bandbreiten variieren stark, je nachdem, wo auf der Welt sie wachsen, aber mehr noch als die Bäume selbst ist es ihre Beziehung zum Meer, die er den Unterschied zwischen diesen Wäldern und ihren inländischen und äquatorialen Gegenstücken ausmacht.
    Das Verbreitungsgebiet des gemäßigten Küstenregenwaldes ist – wie das der meisten wilden Tiere – in relativ kurzer Zeit drastisch kleiner geworden. Bis vor ungefähr tausend Jahren ließen sich gemäßigte Regenwälder auf jedem Kontinent bis auf Afrika und die Antarktis finden. Es gab eine Zeit, da waren die üppigen Küstenwälder in Japan ein transpazifischer Spiegel der amerikanischen; mächtige Konife ren wuchsen dort und erreichten gewaltige Höhen in einem Klima, das dem des amerikanischen Nordwestens vergleichbar war. Bis auf wenige einsame Riesen, die in Parks oder auf Tempelgelände stehen, sind diese Wälder verschwunden. Die schottischen Highlands, Orte, die lange mit unfruchtbarem Heideland in Verbindung gebracht wurden, waren ebenfalls Heimat eines gemäßigten Regenwalds. Das gilt für Irland, für Island und die Ostküste des Schwarzen Meeres. Während an der Nordseeküste von Norwegen noch vereinzelte Spuren ursprünglichen Regenwaldes erhalten sind, bleiben Chile, Tasmanien und das neuseeländische South Island die einzigen Orte, deren Wälder in Flora, Atmosphäre und Charakter noch entfernt denjenigen des pazifischen Nordwestens ähneln, wo weltweit die größten Wälder dieser Art beheimatet sind.
    Tolkiens Ents vergleichbar sind die Bäume des Nordwestens seit Äonen die Küste hinauf- und hinuntermarschiert, sind bei jeder Eiszeit nach Süden geflohen und haben verlorenes Gebiet zurückerobert, sobald die Gletscher zurückgewichen waren. Die gegenwärtige Wiederkehr ist noch nicht abgeschlossen, sodass Sitka-Fichten sich mit einer Geschwindigkeit von ungefähr einem Kilometer im Jahrhundert nordwärts nach Alaska verbreiten. Die Western Red Cedar, derjenige Baum, dem die Stämme der Nordwestküste so gut wie alle Baumaterialen verdanken, existiert in seiner gegenwärtigen Verbreitung erst seit vier- oder fünftausend Jahren. Wenn individuelle Arten auch uralt sein mögen und die Bäume als Altbestand gelten dürfen, sind die Wälder, in denen sie stehen, nach geologischen Maßstäben und sogar unseren eigenen gerade mal Kinder. Als der erste dieser Bäume heranreifte, lebten Menschen in Nordamerika schon seit mindestens fünftausend Jahren.
    Bis vor Kurzem war Nordamerikas Küstenregenwald so wenig erkundet, dass man ihn sogar in der Holzfällerindustrie als »biologische Wüste« bezeichnete. Während der Prozess der Katalogisierung und Erforschung der Lebewesen, die den Wald mit diesen Bäumen teilen, noch in den Kinderschuhen steckt, weiß man doch bereits, dass es auf dem Waldboden ebenso wie auf dem Kronendach darüber buchstäblich von Leben wimmelt. Man hat geschätzt, dass ein Quadratmeter Boden des gemäßigten Regenwaldes bis zu zwei Millionen Lebewesen enthalten kann, die eintau send Arten repräsentieren. Andy Moldenke, ein Entomologe von der Oregon State University, hat errechnet, was auf der Fläche einer durchschnittlich großen Schuhsohle zu finden wäre; er kam zu dem Ergebnis, dass beim Gang durch einen der Küstenwälder Oregons jeder aufgesetzte Fuß auf den Rücken von sechzehntausend wirbellosen Tieren trifft.
    Diese Aktivitäten laufen überwiegend unsichtbar ab, können jedoch auf anderer Ebene spürbar werden. Die Atmosphäre in einem natürlich gewachsenen Küstenregenwald grenzt ans Amniotische; still und eng, der Schall verbreitet sich hier drinnen ganz anders, und die Luft bewegt sich so gut wie gar nicht. Wegen der Nähe des Waldes zur Küste, sind die See und viele ihrer Bewohner auch innerhalb des Waldes stark vertreten. Dank der Instabilität des Ozeanwet ters in hohen Breiten und der damit verbundenen Vielfalt an Nährstoffen gedeiht das Ökosystem und bildet eine hydroponische Matrix, in der Verhaltensweisen und Abgrenzungen, die wir für selbstverständlich halten, durchbrochen und, in manchen Fällen, sogar ins Gegenteil verkehrt werden. Abhängig von Tidenhub und Niederschlagsmenge finden sich Lachse und Forellen, die von ihren transozeanischen Odysseen zu den heimatlichen
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