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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis
Autoren: J Vaillant
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Flüssen zurückkeh ren, gestrandet in den Zweigen der Bäume wieder, während unter deren Wurzeln Alkenvögel nisten, scheue Seevögel, die unter Wasser »fliegen« können. Zehn Etagen über dem Waldboden starten ihre Verwandten, die Marmelalken, ihre eigenen Unterwasserexpeditionen zur Nahrungssuche von moosbedeckten Nistplattformen, die vielleicht schon Jahrhunderte alt sind. Mit Geschwindigkeiten bis zu hundert sechzig Stundenkilometern sausen sie wie Hummeln auf Speed hin und her – aus dem Wald ins Meer und wieder zurück. Mit einem Hundertstel dieser Geschwindigkeit schwimmen Bären, die sich aus dem Ozean ernähren – manche so weiß wie der Weißkopfseeadler – von Insel zu Insel und streifen an den Flutlinien entlang, wo sich ihre Fußabdrücke mit denen von Hirsch, Otter, Marder und Wolf überkreuzen. Gleichzeitig verfolgen Seehunde Salzwasserfische bis tief in den Wald hinein und verlängern ihren Landurlaub, indem sie sich neben einem Baum ausruhen, der im Winter zuvor vielleicht eine Bärenhöhle gewesen sein mochte. Der geduldige Beobachter wird im Wald erleben können, dass Bäume sich von Lachs ernähren, dass Adler schwimmen können und dass Orcas sich ins steinige Flachwasser wuchten und einem durchdringend in die Augen sehen.
    Die indigenen Völker der Nordwestküste entfernten sich während des größten Teils ihrer Geschichte nicht weiter als hundert Meter von dieser Schwelle zwischen den Welten, an der so heftiges Treiben herrschte. Bei einem Leben mit einer solchen Grenzerfahrung ist es kaum verwunderlich, dass sich ihre Kunst, ihre Tänze und ihre Geschichten so sehr an Konvergenz und Transformation orientieren. Nirgendwo sonst an der Küste stellt sich die tief greifende gegenseitige Abhängigkeit von Wald, Meer und den Bewohnern, die sie teilen, dramatischer dar als auf den Queen Charlotte Islands.
    Nach dem Schiff eines britischen Händlers benannt, sind die Inseln das historische Territorium des Haida-Volks, das bis heute dort lebt und seine Heimat Haida Gwaii nennt. Auf Landkarten scheint der Archipel, der aus mehr als einhundertfünfzig Inseln und Inselchen besteht, vom Kontinent losgebrochen und weggeschwommen zu sein, nicht ohne ein deutliches Loch in dem so genau passenden Puzzle aus Inseln und Inselchen zu hinterlassen, das die Nordwestküste beschreibt. Das nächstgelegene Land ist Alaskas Prince of Wales Island, eine fünfundsechzig Kilometer lange Seereise nach Norden. British Columbia, dessen abgelegenster Teil die Queen Charlottes sind, liegt achtzig Kilo meter östlich. Südlich und westlich erstreckt sich offener Ozean, aber er fällt nicht allmählich ab, sondern stürzt jäh und fast vertikal in die Tiefen des Pazifiks. Der zweihundertachtzig Kilometer lange Archipel thront auf dem Außen rand des Kontinentalsockels, der hier die Form eines zweitausendachthundert Meter hohen Unterwasserkliffs annimmt. Entlang der von Stürmen gezeichneten Westküste der Inseln verursacht die plötzliche Veränderung der Meerestiefe Wellen, die hoch genug sind, um Treibhölzer auf dreißig Meter hohe Klippen zu spülen, und verblüffende Strömungen, die das Wasser nicht in zwei Richtungen fließen lassen, sondern in vier. Den zum Ozean gerichteten Umrissen des Archipels entspricht in vier Kilometern Tiefe der Queen Charlotte Fault, an dem sich die nordwärts gerichtete Pazifische Platte und die südwärts gerichtete Amerikanische Platte mit peinigender Langsamkeit und verheerender Kraft aneinander reiben. Das Epizentrum eines der stärksten Erdbeben, die man je an der Westküste registriert hat (8, 1 auf der Richter-Skala), wurde hier lokalisiert.
    Wenn die Hawaii-Inseln fünftausend Kilometer nordöstlich aus dem Meer aufgestiegen wären, würden sie wohl ausgesehen haben wie die Queen Charlottes. Die Inseln sind faktisch ein von Wasser umgebener Regenwald, der sich an die Flanken schneebedeckter Berge schmiegt, und sie sind nur schwer erreichbar: Vitus Bering hatte bereits die Küste von Alaska erforscht, und Captain Cook hatte Australien erreicht, bevor Europäer einen Fuß auf die Charlottes setzten. Noch heute dauert die Reise von Vancouver mit Auto und Fähre drei Tage. Die Menschen haben die mystischen und offenbarenden Eigenschaften dieser Inseln so zu schätzen gelernt, dass selbst Holzfäller und Landnutzungsplaner sie mit dem Adjektiv »magisch« beschreiben. Perry Boyle, ein altgedienter Schlepperführer aus Prince Rupert auf dem angrenzenden Festland, fasste es vielleicht
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