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Das Blut des Skorpions

Das Blut des Skorpions

Titel: Das Blut des Skorpions
Autoren: Massimo Marcotullio
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KAPITEL I
     
    Seit einiger Zeit stand Pater Athanasius Kircher sehr früh am Morgen auf, selbst für seine Verhältnisse.
    Bekanntermaßen hat der Körper mit fortschreitendem Alter ein geringeres Bedürfnis nach Ruhe, und Pater Kircher war bereits in jene Lebensphase eingetreten, in der die Jugend nur noch eine ferne Erinnerung ist.
    Aber das war nicht der einzige Grund.
    Eine unerklärliche Unruhe und ein bedrückendes Gefühl bevorstehenden Unheils hatten sich seiner Seele bemächtigt, ohne dass er sich dessen völlig bewusst war.
    Sogar seine Studien wurden davon beeinflusst.
    Von der Stunde des Sonnenuntergangs an, wenn die ersten Sterne am hohen, klaren Himmel von Rom erschienen, bis weit nach Mitternacht blieb Pater Kircher im Observatorium auf dem Dach des Collegium Romanum und verfolgte den Lauf der Sterne, indem er unablässig in das Teleskop blickte, das er selbst entwickelt hatte. Erst wenn die Müdigkeit und das Alter ihm die weitere Beobachtung der Gestirne verwehrten, legte er sich schlafen. Doch schon nach wenigen Stunden, noch vor Sonnenaufgang, war er wieder hellwach und auf den Beinen, um den Ergebnissen seiner nächtlichen Studien einen Sinn zu verleihen.
    Einem ungeübten Auge erscheint der Sternenhimmel immer gleich und unveränderlich in seiner Unermesslichkeit. Aber Pater Kircher sah nicht mit den Augen eines Laien zu ihm hinauf.
    Er verstand es, von diesem mit funkelnden Edelsteinen bestickten Mantel die Bahnen und Umlaufbahnen, den Auf- und Untergang von Gestirnen sowie ihre verschiedenen Konstellationen abzulesen, die für gewöhnliche Sterbliche keinerlei Bedeutung haben, dem bewanderten Astronomen jedoch Millionen von Geschichten erzählen und Milliarden von Möglichkeiten andeuten.
    In diesem Teppich aus leuchtenden Diamanten suchte Pater Kircher nach einer Erklärung für die Sorge und die düstere Vorahnung, die ihn bedrückten.
    Der Mönch war davon überzeugt, dass man im Lauf der Gestirne über das immense nächtliche Himmelszelt den Willen Gottes und das Schicksal der Menschen erkennen konnte. All die Dinge, die dem Mann von der Straße als verworren, chaotisch und willkürlich erschienen, trugen nach Kirchers Auffassung das Zeichen des Schöpferwillens. Nichts geschah durch Zufall, jedes Ereignis, jede noch so geringe Begebenheit, jede Kleinigkeit waren Teil eines großen Plans, den der unergründliche göttliche Geist erdacht hatte.
    Auch an jenem Morgen Anfang Mai, Anno Domini 1666, erhob sich Pater Kircher in diesem Glauben von seinem Lager.
    Er ging zum Fenster und öffnete die Läden, um die frische Morgenluft einzuatmen. Der Himmel färbte sich über der Horizontlinie gerade zartrosa, während die letzten Sterne nach und nach verblassten, als würden sie sich bereits vor dem triumphalen Einzug des Tagesgestirns verneigen.
    Kircher sog tief den noch vorhandenen geheimnisvollen Duft der Nacht ein und genoss diesen Moment, bevor der Wagen des Apoll die Geschöpfe der Persephone zurück in die Tiefen des Hades jagte, dieses kurze Intermezzo, wenn die Erde herrenlos zu sein schien und zwischen dem Reich des Olymp und der Unterwelt schwebte.
    Die verlassenen Straßen, die noch nicht von einer lärmenden, ihren Alltagsgeschäften nachgehenden Menschenmenge bevölkert waren, erzählten von der unvergänglichen Erhabenheit der Ewigen Stadt, von ihrer jahrtausendealten Geschichte und ihrer Bestimmung als Führerin der Völker der Erde.
    Pater Kircher freute sich an diesen wenigen Augenblicken des Friedens, bevor er sich seufzend wieder seinem Schreibtisch zuwandte, auf dem die Sternenkarten ausgebreitet waren, die er im Laufe seiner unermüdlichen astronomischen Forschungen mit Einträgen versehen hatte.
    Die Beobachtungen der vergangenen Nacht schienen zu bestätigen, was er schon seit einiger Zeit vermutete. Die Abweichungen der Planeten von ihren Umlaufbahnen, die Anordnung der Leitsterne, die Bahnen der Boliden – all das trug dazu bei, eine höchst ungewöhnliche Sternenkonjunktion entstehen zu lassen, wie sie das menschliche Auge nur selten zu sehen bekam.
    Orion und Kassiopeia, die in einer Flucht mit dem Mond und dem Mars standen, waren dabei, ein Bild zu formen, von dem er vor Jahren einmal in einer chaldäischen Schrift in hebräischer Übersetzung gelesen hatte, einer Schrift, die sich noch in irgendeinem verborgenen Winkel seiner umfangreichen Bibliothek befinden musste.
    Kircher erhob sich von seinem Stuhl, ging im Zimmer auf und ab und versuchte sich an den Standort
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