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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis
Autoren: J Vaillant
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am besten zusammen, als er sagte: »Da drüben ist alles mystisch.« Dieses Land, das »westlich des Westens« liegt, repräsentiert eine Konzentration dessen, was man geografische Quintessenz nennen könnte, als seien Natur und Geist einer viel größeren Region in einen eigentlich zu kleinen Raum gezwängt. Treibhäuser, Bibliotheken und Museen können diesen Effekt simulieren, in Jerusalem ist er ebenso spürbar wie auf den Aran Islands, im Yosemite National Park und in Delphi. Lower Manhattan ist eine moderne urbane Version, und die Kathedrale in Chartres ist eine ekklesiastische. Für viele Menschen aus British Columbia und andere, die mit diesem Teil der Welt vertraut sind, bedeuten die Charlottes – oder Haida Gwaii – eine Art »See lenheimat«, ein wildes, indigenes Eden, und selbst für Menschen, die noch nie dort waren, sind sie ein Ort, dessen Existenz gleichzeitig anregt wie beruhigt. Die Inseln bilden sowohl eine Verbindung zu der Zeit vor Ankunft der Europäer als auch einen kleinen Ausblick auf eine mögliche Zukunft.
    Ein anschauliches Beispiel dafür, dass die Inseln die Essenz von etwas weitaus Größerem zu sein scheinen, wurde um die Jahrhundertwende von einem amerikanischen Jäger und Naturforscher namens Charles Sheldon geschildert. Sheldon reiste ausgiebig durch den Westen einschließlich der Northwest Territories und Alaskas und schrieb mehrere Bücher über seine Abenteuer, die zu Klassikern des Genres wurden. Im Herbst 1906 lockten ihn Gerüchte auf die Charlottes, in denen eine außergewöhnlich seltene Unterart des Karibu erwähnt wurde, die nur auf den Inseln bekannt war. Auf der Suche nach einem Musterexemplar war er einen erstaunlich regnerischen Monat lang zu Fuß unterwegs und erkundete die Nordspitze von Graham Island, der größten Insel des Archipels. Seine Suche führte ihn durch tiefe Wälder, flussaufwärts und über baumloses, sumpfiges Ödland, wo ihn ein bizarres Phänomen beschäf tigte: »Eine auffällige Eigenschaft des atmosphärischen Effekts an diesem Ort war eine optische Täuschung, die genau das Gegenteil dessen vorspiegelte, was auf den westlichen Prärien der Vereinigten Staaten verbreitet zu beobachten ist. Objekte schienen sehr weit entfernt zu sein, obwohl sie sich doch ganz in der Nähe befanden, und man brauchte lange Zeit, um sich daran zu gewöhnen, dass man tatsächlich nur kurze Strecken überwunden hatte, obgleich einem das Auge sehr weite Entfernungen vorgegaukelt hatte.«
    Es besteht kein Zweifel, dass diese Inseln intensiven Einfluss auf Menschen haben. Damit hat, wie Sheldons Beobachtungen andeuten, das Licht sehr viel zu tun, und zwar vielleicht deswegen, weil die Natur es anscheinend nur widerwillig spendet. Die Queen Charlotte Islands zählen zu den regenreichsten Orten Nordamerikas. Sie befinden sich in einer Region, die von Ökologen als »sehr feuchte hypermaritime Subzone« bezeichnet wird, wo an mehr als zweihundertfünfzig Tagen des Jahres der Himmel hinter einer geschlossenen Wolkendecke verborgen bleibt. Wenn die Sonne scheint, dann oft durch ein Prisma aus Wasserpartikeln, und aus diesem Grund sind hier häufig Regen bogen zu beobachten. Weitaus seltener, aber durchaus dokumentiert sind lunare Regenbogen. Sie erscheinen als geisterhaft leuchtende Bogen, die von einem aufgehenden oder untergehenden Mond verursacht werden, der unter Regenwolken scheint. Aber da ist mehr als Wasser und Licht; die Lebenskraft hier draußen ist in buchstäblicher, biologischer Hinsicht außergewöhnlich stark. Dreiundzwanzig Walarten leben hier oder passieren die Gewässer der Region, und die Inseln sind die Heimat der größten Population von Weißkopfseeadlern des Kontinents. Burberry Narrows, ein schmaler Priel, der mitten durch den Archipel verläuft, enthält eine der weltweit höchsten Vor kommen von Meereslebewesen pro Quadratmeter. Die Säge zahnküste im Westen beherbergt Muscheln in der Größe von Abendschuhen.
    Seit dem Ende der letzten Eiszeit sind die Queen Charlottes auf sich allein gestellt, und dafür verantwortlich ist allein die Hecate Strait. In einem Bereich von nur achtzig Kilometern variiert die Meerestiefe um die Inseln von dreitausend Meter bis auf weniger als sechzig. Dieser relativ rasante Abfall in die Tiefe kann zusammen mit der vollen Wucht heftiger Polarstürme und riesiger pazifischer Brecher dazu führen, dass die Hecate Strait in ein paar Stunden aus flacher Behäbigkeit zu achtzehn Meter hohen Wellen explodiert. Der flache,
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