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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis
Autoren: J Vaillant
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sind die Anfänge beinahe unvorstellbar bescheiden: Ein einzelnes Samenkorn der Sitka-Fichte wiegt nur ein fünfhundertstel Gramm, und doch trägt es sämtliche Informationen in sich, die gebraucht werden, um einen Baum wachsen zu lassen, der mehr als dreihundert Tonnen wiegen kann – ungefähr so viel wie drei Blauwale. Die Sitka-Fichte ist an der gesamten Küste verbreitet, aber diese »Superfichten« wachsen nur an einer Handvoll Stellen, und eine davon ist das Yakoun Valley.
    An einem Herbsttag so um 1700 öffnete sich auf dem Westufer des Yakoun River ein Sitka-Fichtenzapfen und ließ ein Samenkorn wie kein anderes zu Boden fallen. Es war eines unter Hunderten Samenkörnern, die in jenem Jahr aus einem unter Zehntausenden Zapfen fielen, die von einer der Zigmillionen Sitka-Fichten produziert worden waren, die an der Nordwestküste wuchsen. Es mag gut sein, dass sein Elternbaum seit der Wikingerzeit Samenkörner verstreut hatte. Wäre da nicht die Tatsache, dass die Überlebenschancen eines individuellen Fichtensamenkorns vergleichbar mit denen eines menschlichen Spermiums sind, wäre jeder Elternbaum ein eigener Wald. Doch obwohl sie bis zu siebenhundertfünfzig Jahre lang fruchtbar ist, produ ziert eine Sitka-Fichte vielleicht nur ein Dutzend Abkömmlinge, die bis zur Reife überleben. Dass aus dem Samenkorn, von dem wir sprechen, einer davon werden würde, bleibt den Menschen bis zum heutigen Tag ein Rätsel.
    Geformt wie eine Träne und ungefähr so groß wie ein Sandkorn, wird der Samen wohl genauso wie all die anderen ausgesehen haben, die seit Jahrtausenden den Waldboden übersät hatten. Von seinen Kollegen, die auf dem satten Moos landeten, das sich wie ein Teppich in einem großen Teil des Waldes ausbreitete, würde nur einer unter hundert tatsächlich keimen. Denjenigen, die das Glück hatten, auf einem Totholzstamm zu landen, erging es natürlich besser, aber auch dann standen die Chancen eins zu drei, dass sie innerhalb des nächsten Monats von Pilzen abgetötet würden. Irgendwie schaffte es dieses anonyme Samenkorn mit seiner seltsamen Botschaft allen widrigen Umständen zum Trotz, Wurzeln zu schlagen. Der winzige Sprössling wäre in der überfüllten Kinderstube des Waldbodens leicht zu übersehen gewesen, denn er war von Tausenden anderer aufstrebender Bäume umgeben – nicht nur Sitka-Fichten, sondern auch von Hemlock-Tannen, Red Cedars und gelegentlich Eiben. In diesem Stadium wäre er von allen über ragt worden, selbst von Schattengewächsen wie Lover’s Moss, Little Hands Liverwort, Black Lily, Sword Fern und Devil’s Club, ganz abgesehen von den Dickichten aus Salal, die bis zu vier Meter hoch werden können und ohne Einsatz einer Machete nicht zu durchqueren sind.
    Diese Jungpflanze zu betrachten – wenn man sie überhaupt ausmachen kann – und zu unterstellen, dass sie jede Absicht hätte, zu einer jener turmhohen Säulen aufzuwachsen, die einen so großen Teil des nordwestlichen Himmels verdecken, würde bestenfalls als weit hergeholt erscheinen. In seinem ersten Lebensjahr würde der Jungbaum um die fünf Zentimeter hoch werden und so ungefähr ein halbes Dutzend blassgrüner Nadeln tragen. Er würde auf dieselbe abstrakte Weise anziehend wirken wie ein Schnappschild krötenbaby, und seine fremdartige Erscheinungsform würde überspielt von den universellen Kennzeichen früher Kind heit wild wachsender und wild lebender Pflanzen und Tiere: völlige Hilflosigkeit und primordiale Vorbestimmung zu gleichen Teilen. Trotz seiner gesträubten Halskrause und eines Stängels, so gerade wie ein Sonnenstrahl, war der Pflänzling immer noch empfindlich wie ein Froschei; ein fallender Ast, der Fuß eines Menschen oder eines Tieres – jede erdenkliche Zahl zufälliger Vorkommnisse – hätten ihm an Ort und Stelle den Garaus machen können. Dort unten in der feuchten Dunkelheit des Unterholzes war der wundersame Makel des jungen Baums ein wohlbehütetes Geheimnis. Mit jedem Jahr, das verging, grub er seine Wurzeln tiefer ins Flussufer und klammerte sich stärker an Leben und Land. Allen Widrigkeiten zum Trotz gehörte er zu der Handvoll junger Bäume, die überlebten, um sich im Wettkampf mit Giganten, die drei Meter Umfang hatten und Dutzende von Metern hoch waren, den Weg ins Son nenlicht zu bahnen. Schließlich sollte es die Sonne sein, die das Geheimnis dieses Baums für jeden sichtbar machen würde, und Mitte des 18. Jahrhunderts würde es mehr als deutlich sein, dass am Ufer des Yakoun
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