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Am Ende der Wildnis

Am Ende der Wildnis

Titel: Am Ende der Wildnis
Autoren: J Vaillant
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oder das Bruchstück eines abgestürzten Satelliten gleichermaßen triftige Fundstücke sind. Jedes Artefakt hat seine eigene Geschichte, wenn auch der Kontext nur selten ein Happy End erlaubt; in den meisten Fällen ist es nur der Trödelsammler, der etwas davon hat. Scott Walker sammelt seit mehr als fünfundzwanzig Jahren Dinge, die andere verloren haben, und er hat sich in dieser Zeit ein informelles Fachwissen zur Forensik von Ballast und Treibgut angeeignet. Wenn ein Fundstück eventuell nützlich oder hinreichend interessant ist, und wenn es darüber hinaus klein genug ist, um es aufzuheben, dann findet der Ehrenkodex der Strandgutsammler Anwendung. Walker hielt sich an diesen Kodex, als er auf den kaputten Kajak stieß und ihn auseinandernahm, um an die Teile aus rostfreiem Stahl zu gelangen.
    Aber als Walker während der Arbeit den Kopf hob und sich umschaute, bemerkte er einige Dinge, die ihn verharren ließen. Weiter unten an der Flutlinie verstreut lagen persönliche Gegenstände: ein Regenmantel, ein Rucksack, eine Axt – und da ging ihm auf, dass sein Fund womöglich nicht von irgendeinem Strand oder einem Dock weiter unten an der Küste fortgespült worden war. Je mehr Dinge er bemerkte – einen Kocher, Rasierzeug, eine Schwimmweste –, desto schmaler wurde die Kluft zwischen seinem Finderglück und dem Unglück eines anderen Menschen. Das hier würde letztlich kein sauberer Fund werden. Walker schloss aus der Position der schwereren Gegenstände weiter unten im Gezeitenbereich, dass der Kajak an Land gespült worden und bei Ebbe zerbrochen war. Die leichteren Dinge, einschließlich großer Kajakteile, waren anschließend von Fluten und Wind höher auf den Strand getragen worden, und sie waren es, die bei Walker die Alarmglocken schrillen ließen. Obwohl er sich um einen Stamm schlang, war der Schlafsack noch in beinahe perfektem Zustand, ohne Risse oder Flecke und von Salz und Sonne nicht gebleicht; die Schwimmweste sah ebenfalls aus, als sei sie gerade aus der Ablage genommen worden. Sogar der Kocher erschien bergungswert. Eingeklemmt zwischen Steinen am Rand des Wassers, wies er nur geringe Roststellen auf. Die Zeit der Winterstürme, für die schlimmsten Zerstörungen an der Küste verantwortlich, war gerade erst vorüber, und daher musste dieses Wrack frisch sein, vielleicht nur zwei Wochen alt. Er erwog, den Kocher und den Schlafsack in seiner Segeljolle zu verstauen, aber als er mögliche Unfallszenarien bedacht und sich nochmals die unbehagliche Nähe eines Fremden vor Augen geführt hatte, beschloss er, die Dinge dort zu lassen, wo sie lagen. Könnte doch sein, dachte Walker, dass sie noch als Beweismaterial dienen mussten. Die Schrauben aus rostfreiem Stahl würde jedoch niemand vermissen. Also steckte er sie in die Tasche und machte sich auf den Weg über den Strand. Er hielt Ausschau nach einer Leiche.
    Walker fand keine, und erst von den Alaska State Troopers in Ketchikan, fünfzig Kilometer weiter nördlich, erfuhr er die Geschichte, die hinter seiner Zufallsentdeckung steckte. Der Kajak und sein Besitzer, ein kanadischer Waldvermesser und Holzexperte namens Grant Hadwin, wurden vermisst – nicht erst seit Wochen, sondern seit Monaten. Dieser Mann war anscheinend auf der Flucht, gesucht wegen eines merkwürdigen und beispiellosen Verbrechens.

KAPITEL EINS
    Eine Schwelle zwischen Welten
    Da war Schönheit, ja … doch wer würde davon wissen, bevor nicht der Mensch sie dazu erklärte.
    Ralph Andrews, Timber
    A n der Nordküste gibt es keinen sanften Übergang vom Ozean zu den Bäumen. Der Wald übernimmt an der Stelle, wo die Gezeiten enden, und bricht mit seiner ganzen Kraft aus der flachen, felsbedeckten Erde. Die Grenz linie zwischen beiden ist jedoch flexibel, und das Meer wuch tet bei jeder Gelegenheit Steine, Stämme und manch mal sogar sich selbst in den Wald. Dafür suchen die Wurzeln der Küstenkiefern und Fichten an Felsbrocken Halt, die Napfschnecken und Rankenfüßern besser dienlich wären, und dicht benadelte Zweige werfen ihre Schatten über Kolonien von Seesternen und Seeanemonen. Die Luft ist erfüllt vom Gestank verfaulenden Seetangs, der mit dem lehmigen Geruch verrottenden Holzes wetteifert. Vom Strand aus kann man so weit blicken, wie die Höhe des Standorts und der Horizont erlauben, aber wenn man sich landeinwärts wendet, blinzelt man in einen dunklen Raum, und die Pupillen weiten sich, um das klaustrophobische Nichts zu füllen. Die Spur einer Person oder der
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