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Sirenenlied

Sirenenlied

Titel: Sirenenlied
Autoren: Tanja Heitmann
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Prolog
    Leidenschaftlich schlang sie ihre Beine um seine Hüften, während ihre Fingerspitzen eine prickelnde Spur entlang seiner Wirbelsäule hinterließen. Oder war es nur das aufgewühlte Wasser, das an ihm riss und zerrte? Nein, diese Berührungen … das konnte nur sie sein. Sie hielt ihn in ihrer Umarmung, zog ihn fest an sich. Ihre süße, verführerische Stimme drang wie das Rauschen der See an sein Ohr.
    Hohe Wellenbrecher schlugen irgendwo über ihm zusammen, führten einen wild schäumenden Tanz auf, während er immer tiefer sank. Anstelle von Schwarz leuchtete hinter seinen geschlossenen Augen funkelndes Blau, durchsetzt von Goldsprenkeln. Als würde er an einem Sommertag in der Brandung liegen und sie jede verborgene Stelle seines Körpers mit Küssen und Berührungen übersäen.
    Sie war um ihn herum, überall.
    Wenn er nur die Kraft besäße, die Augen zu öffnen, dann könnte er ihr schönes Gesicht sehen, das sich ihm mehr als alles andere eingebrannt hatte. Wie lange hatte er auf ihre Wiederkehr warten müssen! Aber jetzt war sie endlich da, und er würde keinen einzigen weiteren Gedanken an die letzten Jahre verschenken, die ihm so unerträglich leer erschienen waren.

    Nur Meeresrauschen, kein Gesang.
    Ihr langes Haar trieb wie nasser Seetang in sein Gesicht. Anfangs war die Berührung nicht mehr als ein flüchtiges Streifen, doch dann verdichteten sich die Strähnen, bis er glaubte, daran zu ersticken. Für einen Augenblick wurde ihm bewusst, dass das Brennen in seiner Brust nicht der Lust, sondern dem Sauerstoffmangel in seinen Lungen entsprang. Er musste auftauchen, sofort. Aber das bedeutete, sich aus ihren Armen zu befreien, sie von sich fortzustoßen. Nein, unmöglich. Das Zauberwort, er musste nur das Zauberwort aussprechen, dann könnte er endlich die Augen öffnen und erkennen, dass sie leibhaftig bei ihm war, und dass es nicht bloß ihr Lied gewesen war, das ihn ins stürmische Meer und damit in eine tödliche Falle gelockt hatte. Sie lag in seinen Armen - wirklich und tatsächlich.
    Doch sein Mund weigerte sich, sich zu öffnen. Er spürte eine sanfte Berührung, als hätte sie ihre kühlen Lippen zu einem Kuss auf seine gesenkt. Wie auf eine geheime Losung hin glitten seine Lippen auseinander. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, drang eiskaltes Salzwasser in seinen Mund. Seine Glieder wurden bleiern, während der Lebensfunke in ihm erlosch. Unter ihm tat sich ein schwarzer Malstrom auf, in den er unwiederbringlich hineingezogen wurde.
    Ich kenne das Zauberwort, dachte er verzweifelt, ich muss es nur aussprechen.
    Dann schwanden ihm die Sinne.

1
    Inselrundgang
    Josh fuhr aus dem Schlaf hoch, als hätte jemand eine Bombe unter ihm gezündet. Er griff sich an die Kehle, schnappte nach Luft, von der es zu seiner Überraschung mehr als ausreichend gab. Eben noch war da nur Wasser gewesen, nichts als Wasser. Es hatte ihn verschlungen, als wäre es etwas Lebendiges mit einem eigenen Willen. Etwas, das ihn wollte. Mit Leib und Seele.
    Aufgewühlt sog er die Luft stoßweise ein, bis sein Brustkorb schmerzte. Dann sickerte langsam die Erkenntnis zu ihm durch, dass er dem Alptraum entkommen war. Wenn man es denn einen Alptraum nennen wollte … ein Teil seines Körpers erzählte da etwas ganz anderes, erzählte von der Erfüllung eines Wunschtraums. Und er hätte alles dafür gegeben, sich noch einmal dem Schlaf zu überlassen, gleichgültig gegenüber den Gefahren. Zu stark war das Verlangen.
    »Gott, wie ich das hasse«, sagte Josh zu der niedrigen Zimmerdecke gewandt.

    Obwohl es kühl war, strampelte er die Decke von seinen Beinen. Im Traum mochte er von eisiger Schwärze umgeben gewesen sein, die jeden Lebensfunken erstickt hatte, aber jetzt war seine Haut heiß und verschwitzt. Eine unangenehm elektrisierende Energie kroch über sie, die er am liebsten abgeschüttelt hätte. Wie ein Getriebener lief er einige Schritte in dem Zimmer auf und ab, wobei er einen Stiefel aus dem Weg kickte, über den er in der Dunkelheit beinahe gestürzt wäre.
    Ein Blick auf den Wecker verriet ihm, dass es noch viel zu früh am Morgen war. Gerade einmal vier Uhr. Die Zeit, in der einen die absurdesten Gedanken und Träume heimsuchen. Ihre Zeit. In der Ferne konnte er das Meer hören, wie es gegen die Küste von Cragganmore Island prallte. Ein Lied, das er normalerweise gar nicht mehr wahrnahm, weil es ihn seit seiner Kindheit begleitete. Mit den aufziehenden Frühjahrsstürmen veränderte sich jedoch seine
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