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Wenn Wir Tiere Waeren

Titel: Wenn Wir Tiere Waeren
Autoren: Wilhelm Genazino
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Außenwahrnehmungen nicht erlaubte. Wenn ich mich gut fühlte, beklagte ich zum Beispiel das Verschwinden der kleinen italienischen Eissalons, der Schuhmachereien und der Eier-Butter-Milch-Geschäfte. Wenn ich als Schuljunge für ein paar Stunden das Opfer einer Kinderverlassenheit wurde, ging ich zu dem Eissalon Venezia und kaufte mir zwei Bällchen Vanilleeis, die mich aus der Verlassenheit herausholten. Ich beschwerte mich (still, im Innern, wortlos) über das Überhandnehmen der chemischen Reinigungen, der Spielsalons und der Bankfilialen. Die Straße, die ich mit zunehmender Gutwilligkeit entlangging, war lang und lebhaft und laut. Ich wunderte mich über die Präsenz verwirrter und verwahrloster Personen, die in diesem Viertel neu waren. Ich erinnerte mich an die Gesichter von Obdachlosen, die in früheren Jahren hier umherschlurften. Viele von ihnen waren irgendwann verrückt geworden oder verschwanden in Heimen, einige wurden von Jugendlichen nachts erschlagen, aber die vielen anderen, wo waren sie geblieben? Und wo kamen die neuen Obdachlosen her, die ungleich zerlumpter aussahen als ihre Vorgänger?
    Ich weiß nicht, warum ich mich jetzt an meine Mutter erinnerte, die einmal, als ich mittags aus der Schule nach Hause kam, verletzt oder ohnmächtig auf dem Küchenboden lag. Sie stöhnte, aber sie sagte nichts. Ich hatte den Verdacht, dass sie von meinem Vater geschlagen worden war. Diesen Verdacht hatte ich öfter, ich wusste nicht, woher er kam. Plötzlich fragte ich mich, ob es eines Tages so weit kommen würde, dass ich nicht mehr genau wüsste, ob ich wirklich im Gefängnis gewesen war oder mir die Geschichte nur einbildete. Ich stellte mir diese Unklarheit verlockend vor. So weit musste ich es bringen! Ich wolltesofort damit anfangen, mich undeutlich zu erinnern. Diese Unsicherheit würde mir helfen, mit dem Gefängnis fertig zu werden. Leider bedrückte mich die Gefängniszeit erheblich. Ich vermied inzwischen sogar das Zusammentreffen mit anderen Menschen, weil ich nicht über das Gefängnis reden wollte. Es war mir klar, dass dies keine Lösung des Problems war. An manchen Tagen konnte ich mir dabei zusehen, wie ich bei lebendigem Leib vereinsamte. Der einzige Mensch, der mir half, war Maria. Obwohl sie nichts Besonderes tat, fühlte ich mich bei ihr beschützt. Ich hielt es für möglich, dass ihre Weigerung (ihr Schweigen), mich bei ihr einziehen zu lassen, eine Rache für meinen Kredit an Thea war. Ich warf mir vor, dass ich die Kreditgeschichte nicht zielstrebig verfolgte. Ich hätte Thea längst deutlich fragen müssen, wann sie endlich mit der Rückzahlung beginnen würde. Tatsächlich erweckte ich den Eindruck von jemand, dem es gleichgültig war, ob er sein Geld zurückerhielte. Es war offenkundig, dass meine Nachsicht immer noch eine Liebesgeste war. Auch Maria durchschaute die Motive hinter meinem Zögern, aber sie schwieg, allerdings war ihr Gemüt (wenn ich mich nicht täuschte) eine Spur bitterer geworden. Um diese Gedanken energisch von mir abzuschütteln, stellte ich mir augenblicklich Marias wundervolle Brüste vor. Ihre Brüste waren wie kleine Tiere, von denen ich mir vorstellte, dass sie bei mir Schutz suchten. Oft betrachtete ich Marias Brustwarzen aus größter Nähe. Die Schönheit ihrer Brustwarzen hing damit zusammen, dass die kleinen hellbraunen Hautsegmente um den äußeren Rand der Brustwarzen dicht konzentriert waren und zur Mitte hin seltener wurden, so dass die Spitze der Brust sich rosig erhob und wie ein schwächlich schönes Blümchen aussah. Ich lobte mein eigenes erotischesErinnern und dachte, dass Menschen (wie ich) deswegen zufrieden (glücklich) sind, weil sie lächerliche Details im Kopf ausbauen und dadurch die Nebensachen zu inneren Hauptsachen machen konnten. Es war eine Haupttätigkeit des Glücks, die ihm gemäßen Nebensachen zu finden. Schon diesen Gedanken hielt ich für glückstransportierend und deswegen hinreißend. Sogar durch diese Straße keuchten Jogger und wichen unwillig auf die Fahrbahn aus, wenn die Fußgängerknäuel auf dem Bürgersteig zu dicht wurden. Ich versuchte, über meine Zukunft nachzudenken, vorerst ohne Erfolg. Ich kam an einem Herrengeschäft namens EXQUISIT vorbei. Prompt fiel mir Maria ein, eine andere Maria diesmal, die mich immer wieder ermahnte, meine ganze Garderobe müsse generalüberholt werden. Ich blickte auf zwei Schaufensterpuppen mit tadellosen Anzügen auf den Kunststoffleibern. Ein Herrengeschäft, das sich
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