Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wenn Wir Tiere Waeren

Titel: Wenn Wir Tiere Waeren
Autoren: Wilhelm Genazino
Vom Netzwerk:
EXQUISIT nannte, konnte ich höchstens eine halbe Minute lang ernst nehmen. Durch das Eingeständnis meiner Sperrigkeit, die ich lieben musste, weil sie mich ausdrückte und nicht bloß kleidete, blickte ich wieder kurz auf das Innere meiner Einsamkeit. Es ärgerte mich, dass ich meine Innenwelt die Einsamkeit nannte. Ich wusste längst, dass jeder Mensch einsam war und dass es deswegen sinnlos war, von der allgemeinen Einsamkeit zu reden. Genauso töricht wäre es gewesen, von Zeit zu Zeit darauf hinzuweisen, dass alle Menschen immer mal wieder pinkeln mussten und sich abends schlafen legten. Wenn mich nicht alles täuschte, würde ich trotz meines Fehltritts erneut in den Verwurstungsbetrieb des Lebens eingegliedert. Maria nannte meine Unlust, mich neu einzukleiden, inzwischen sogar eine Tragödie. Ich musste lachen über diese Übertreibung und überlegte momentweise, Maria ein fürallemal auseinanderzusetzen, dass ich nicht mehr als zwei Hosen und zwei Paar Schuhe besitzen wollte. Aber ich konnte ihr nicht deutlich machen, dass ich mich schon seit langer Zeit von der Welt abwandte und dass ich diese Abwendung (unter anderem) durch karge Kleidung darstellen und ausdrücken konnte. Es war mir auf diese Weise zum Beispiel möglich, die voraussichtlich dümmlichen Ereignisse eines beginnenden Tages vorsorglich herabzusetzen, indem ich die ältere meiner beiden Hosen anzog. Überhaupt sind ältere Kleider stets das Eingeständnis einer unabwendbaren Überwältigung, die ich selbst nicht ganz verstand. Ich erlitt und vollzog sie nur. Im tiefsten Grund war mir unverständlich, dass man mit der Welt nicht völlig einverstanden sein konnte. Ich hatte deswegen seit langer Zeit den Verdacht, dass ich von Gott oder sonstwem als Problemkomplikateur stigmatisiert worden war. Hier, in dieser Straße, die ich entlangging, sah ich die große Mehrheit der anderen, deren Problembefall gering war. Ich kam an der niedlichen rundlichen Bratwurstverkäuferin vorbei, die als Galionsfigur einer Metzgerei neben dem Eingang postiert war und mit ihrer absoluten Problemferne viele Menschen anzog, auch mich. Ich hatte mir sogar schon aus stummer Zuneigung zu ihr dann und wann eine Bratwurst gekauft und sie vor ihren Augen aufgegessen, was mich für sie zu einem sympathischen Menschen machte. Einmal sagte sie zu mir: Ihnen geht es heute auch nicht besser als gestern, stimmts? Sie lachte und fügte hinzu (und drehte dabei eine Bratwurst um): Im Unnerbewusstsein geht alles weiter! Ich war amüsiert, erstaunt und verwundert. Sogar eine Bratwurstverkäuferin sprach heutzutage schon vom Unterbewusstsein, das sie Unnerbewusstsein nannte und dadurch menschlich und vertraut machte. Vor einemTchibo-Laden sah ich einen ehemaligen Studienkollegen (seinen Namen habe ich vergessen), der mir philosophische Details erklärte, die ich nicht wissen wollte. Genauso vertraut wie die Bratwurstverkäuferin war mir das Gesicht eines älteren Bettlers. Er trat diskret von der Seite an die Menschen heran und sagte mit leiser Stimme und auf hochdeutsch: Haben Sie ein wenig Kleingeld für mich? Bald bemerkte ich, dass mir der Bettler sympathisch war. Ich gab ihm fast jedesmal, wenn ich ihn sah, etwas Geld. Wo sollte es hinführen, dass es sympathische Bettler gab? Wenn ich ihm (aus Laune, aus Zufall) nichts gab, erlitt ich Gewissenskonflikte. Warum gibst du ihm manchmal Geld, manchmal aber nicht? Das waren unerträgliche Zustände! Ich selbst trug Schuld daran, wenn der Bettler die Welt nicht restlos verstand. Ich konnte die Überwindung sehen, die ihn das Betteln kostete. Ich spielte den bedürfnislosen Zeitempfinder und gab ihm wieder etwas. Maria war vermutlich sehr klug. Sie entdeckte in meiner gespielten Nächstenliebe das Einverständnis mit meiner zukünftigen Verkommenheit.
    Sie sagte: Du solltest dich nicht heimlich daran gewöhnen, bald selbst ein Bettler zu sein.
    Ich sagte: Ich gewöhne mich an gar nichts; ich sitze in meiner Wohnung und starre auf das Telefon, aber niemand ruft an und gibt mir einen Auftrag.
    Maria schwieg eine Weile, dann sagte sie: Wenn du in deinem Beruf keine Arbeit findest, dann musst du in anderen Berufen arbeiten; das machen heute sehr viele Menschen.
    Diese Barriere galt für mich immer als unüberwindbar, aber Maria drängte auf eine Festanstellung, egal als was und egal wo. An diesem Punkt driftete unser Verstehenauseinander. Ich benützte ein weiteres Mal den üblichen Notausgang, den mir mein Kopf niemals verwehrte. Durch das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher