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Wenn Wir Tiere Waeren

Titel: Wenn Wir Tiere Waeren
Autoren: Wilhelm Genazino
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wurde. Der Neid des Fensterstehers trieb mich aus der Wohnung. Was ich jetzt brauchen konnte, waren schnelle Bilder und fliehende Ereignisse. Auf der Straße bedauerte ich, dass ich Michael Autz schon lange nicht mehr gesehen hatte. Wahrscheinlich ist er in eine andere Stadt gezogen, ohne Bescheid zu sagen, dachte ich. Ich hatte mich, wennich mich nicht täuschte, auch schon auf diese Weise verabschiedet. Erst dann fiel mir ein, dass Michael Autz tot war. Du warst selbst auf der Beerdigung gewesen und hast Karin ein bisschen zu heftig angeschaut. Ich erschrak oder ich erschrak nicht. Das Leben lief wieder einmal selbständig zur Trauer hin. Die Wirklichkeit machte mich zu ihrem Hinterbliebenen. Der Gedanke gefiel mir, obwohl er mich zu heftig durchschüttelte. Ich musste irgend etwas tun, um einer ansteigenden Trauer zu entkommen. Ich überlegte, ob ich ins Museum gehen und mir eine Fotoausstellung anschauen sollte. Es gab Fotos aus den fünfziger Jahren zu sehen, als meine Eltern jung waren. Aber dann gehst du im Auftrag deiner Unruhe gehetzt durch die Räume und schaust die Bilder nur flüchtig an. Wenn ich besonderes Pech hätte, würde eine Schulklasse in der Ausstellung herumlärmen und mir schlechte Laune machen. Ich hatte vergessen, dass ich bereits schlechte Laune hatte und nicht mehr wusste warum. Ich wollte mit der U-Bahn ins Stadtzentrum fahren, aber schon in der U-Bahn-Haltestelle roch ich das Kaugummi, das die Leute Tag für Tag hier kauten, und kehrte um. Über meine Schnellabfertigung der Leute empfand ich Schuld. Ich war redewillig, aber es kam niemand und verhörte mich. Ich war von der Welt todähnlich weit entfernt. Kurz erinnerte ich mich an den gestrigen Abend. Ich kam nach Hause, aß ein Brötchen und legte mich kauend ins Bett. Krümel fielen aufs Kissen, aber ich empfand Wohlbehagen, weil ich das Leben wenigstens im Liegen ertrug. Hast du jemand, der dir hilft, einen Bruder oder so was? Wieder machte ich meinen Eltern Vorwürfe, weil sie schon nach einem Kind Schluss machten. Wenn Maria nicht zurückkehrte, würde ich niemanden mehr haben. Schon rechnete ich mit meiner Verstoßung. Gleichwürde jemand um die Ecke kommen und zu mir sagen: Du gehörst nicht mehr zu uns. Das ist die Lieblingsszene der in mir arbeitenden Verrücktheit. Der über mir wohnende Mann hatte gestern abend Besuch von seiner Freundin. Ich hörte die Stimmen und das Kichern der beiden. In etwa zwei Stunden würden sie vögeln und dann einschlafen. Ich wollte aufbleiben, weil ich das Stöhnen der Frau hören wollte, aber dann schlief ich vor ihnen ein und hörte von allem nichts. Meine allergrößte Angst war, dass ich irgendwann während eines sexuellen Vorgangs das Interesse an diesem verlieren und vorzeitig einschlafen würde. Eines Tages würden sich Umstände ergeben, die mich zwingen würden, vor meinem eigenen Leben zu fliehen. Ich brauchte einen selbstfabrizierten Schreckensmythos, weil ich ein Leben ohne dauerhafte Einschüchterung für unecht und unwürdig hielt. Der Gedanke erfreute mich, obwohl ich ihn vor Maria verheimlichen würde. Die Verheimlichung machte mich zart. In diesen Sekunden war ich so überempfindlich, dass ich fürchtete, bei der nächsten Berührung mit der sogenannten Realität in meine Einzelteile auseinanderzufallen. Ich überlegte, dass es das beste sei, mich in meiner Wohnung zu verschanzen und diese nur noch in Härtefällen (arbeiten und einkaufen) zu verlassen. War ich jetzt endlich in ein Schicksal eingetreten? Dabei hatte ich nur Schicksalsstimmungen, aber kein wirkliches Schicksal. Auf jeden Fall musste ich mich auf eine kommende Einsamkeit gefasst machen, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie man das macht: eine unvermeidliche Einsamkeit annehmen. Du wirst dich von allem trennen müssen, besonders von den Frauen, obwohl ich gerade jetzt dringend eine Frau brauchte. Ich musste mit dem Frauenkennenlernen heute noch anfangen, am besten gleich, neinsofort. Am leichtesten wäre, ich könnte den Mut aufbringen, Maria anzurufen und nur zwei Worte zu sagen: Komm, schnell. Aber weil ich sie verletzt hatte, musste ich ihr für eine Weile das Recht auf ausbleibende Rückkehr einräumen. Am besten wäre, ich würde um die Mittagszeit auf den Wochenmarkt gehen, mir drei Reibekuchen kaufen und mich an einen der dort aufgestellten Holztische setzen. Es würde nicht lange dauern, dann würden aus den Verwaltungen und Büros zahlreiche Schreibtischdamen ausschwirren, sich ebenfalls drei Reibekuchen
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