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Sonne über Wahi-Koura

Sonne über Wahi-Koura

Titel: Sonne über Wahi-Koura
Autoren: Anne Laureen
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P ROLOG
    W IESBADEN 1910
    Nach einem strengen Winter und einem verregneten Frühjahr verwöhnte der Sommer die Einwohner und Besucher Wiesbadens mit Sonnenschein und Blütenpracht. Die Beete mit bunten Blumen im Garten des Kurhauses leuchteten. Seltene Stauden und Palmen verbreiteten ein exotisches Flair. Vogelgezwitscher erklang in den Baumkronen, untermalt vom Plätschern der Brunnen, die den Platz vor dem neoklassizistischen Gebäude zierten. Helena von Lilienstein war überwältigt von all dieser Schönheit. Schwelgend schloss sie die Augen und atmete den berauschenden Blütenduft ein. Welch kostbarer Augenblick der Ruhe!
    Als Kurgesellschafterin Sophie von Brockums hatte es die Zweiundzwanzigjährige nicht leicht. Die anspruchsvolle Schwester ihres Vaters litt an einer Lungenkrankheit und war deshalb noch mürrischer als sonst. Weder der prächtige Kurpark noch der herrliche Sonnenschein hatte sie zu einem Spaziergang aus dem Hotel locken können. Sophie hatte es vorgezogen, in ihrem Zimmer zu bleiben, wo sie ihrer Nichte noch vor wenigen Minuten Vorhaltungen gemacht hatte. Die alte Dame wollte einfach nicht begreifen, warum Helena noch immer nicht verheiratet war.
    »Tante, du weißt doch, dass mir die Verantwortung für mein Weingut keine Zeit dazu lässt«, hatte Helena erklärt, ohne jedoch zu Sophie durchzudringen.
    »Ein Gatte sollte dir diese Last abnehmen, damit du dich um die wahren Pflichten einer Frau kümmern könntest«, hatte sie erwidert. »Vergiss nicht, dass Frauen nicht zum Arbeiten geboren sind!«
    Helena stand der Sinn aber nicht nach Kinderkriegen und Abendgesellschaften. Ihre Liebe hatte schon immer dem väterlichen Weingut gehört. Nach dem frühen Tod der Eltern trug sie die Verantwortung für den Familienbetrieb. Zeit, um auf Bällen und Empfängen nach einem Bräutigam Ausschau zu halten, hatte sie nicht. Natürlich wollte sie eines Tages heiraten, doch warum sollte sie nicht auch als Winzerin erfolgreich sein?
    Sophie hatte für diese moderne Ansicht allerdings gar nichts übrig. Immer wieder versuchte sie, das Interesse der männlichen Kurgäste auf ihre Nichte zu lenken. Dabei übersah sie geflissentlich, dass die jüngsten von ihnen doppelt so alt wie Helena waren.
    Ach, wenn Tantchen nur einsehen würde, dass sich die Zeiten geändert haben!, dachte Helena nun, während sie auf der Parkbank die wärmende Sonne genoss.
    Da ertönten Schritte.
    Helena schlug die Augen auf.
    Ein Mann stand vor ihr. Er war etwa Mitte dreißig und trug einen braunen Tweedanzug. Schwarze Locken umrahmten ein markantes, sonnengebräuntes Gesicht.
    Wie lange hat er mich wohl schon beobachtet?, fragte sie sich erschrocken.
    »Excusez-moi, Mademoiselle, ich wollte Sie nicht aus Ihrer petite sieste reißen.«
    »Ein Mittagsschläfchen?«, fragte Helena lachend. »Nein, nein, Monsieur, ich habe nur die Stille genossen. Was kann ich für Sie tun?«
    »Ich suche die Trinkhalle.« Er lächelte gewinnend. »Können Sie mir sagen, wo ich sie finde?«
    Es überraschte Helena, dass er so flüssig deutsch sprach, wenngleich mit einem ausgeprägten französischen Akzent. Sie musterte ihn neugierig. Die Trinkhalle des Kurhauses, in der man jederzeit Quellwasser zu sich nehmen konnte, war eigentlich nicht zu übersehen. Kaum zu glauben, dass er sie nicht gefunden hatte ... Doch sie wollte nicht unhöflich sein. Was für Augen!, dachte sie, während sie das Gefühl hatte, in dem hellen Blau zu versinken.
    »Sie müssen nur geradeaus gehen. Hinter dem Pavillon befindet sich der Eingang.«
    »Vielen Dank.« Der Mann rührte sich nicht von der Stelle.
    Was will er denn jetzt noch? Helena zwang sich, nicht nervös an ihrem Ärmel zu zupfen.
    »Halten Sie mich bitte nicht für unverschämt, aber dürfte ich Sie bitten, mich zur Trinkhalle zu begleiten?«
    »Haben Sie etwa Angst, sich zu verlaufen?«
    »Nein, Ihre Beschreibung war sehr gut, doch in Ihrer Begleitung ist der Weg sicher angenehmer.«
    Wie kommt er bloß dazu, mich darum zu bitten? »Ich kenne ja nicht mal Ihren Namen!«
    Dass sie in wenigen Minuten von ihrer Tante erwartet wurde, verschwieg Helena.
    »Bitte verzeihen Sie!« Der Fremde deutete eine Verbeugung an. »Mein Name ist Laurent de Villiers. Wir Neuseeländer vergessen schon mal unsere Manieren.«
    »Neuseeländer? Das ist ja kaum zu glauben!«
    »Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen meinen Pass, Mademoiselle.«
    Diese Wendung war Helena peinlich. Sie hatte ihn nicht als Lügner hinstellen wollen. Verlegen
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