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Sonne über Wahi-Koura

Sonne über Wahi-Koura

Titel: Sonne über Wahi-Koura
Autoren: Anne Laureen
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die Verdickungen entdeckte. Sie ähnelten kleinen Kartoffelknollen, aber in Wirklichkeit waren es Geschwüre, mit denen sich die Pflanze vergeblich der Schädlinge zu erwehren suchte.
    »Wurzelrebläuse«, stellte Bergau grimmig fest. »Wir sollten die Stöcke ausgraben und verbrennen. Vielleicht gelingt es uns dann noch, die Plage in Schach zu halten.«
    Helena schloss die Augen. Habe ich eine andere Wahl? Sie wusste, dass auch Verbrennen nicht viel brachte, wenn die Reblaus erst einmal im Boden war. Aber vielleicht konnten sie wenigstens noch einen Teil der Trauben verwenden.
    »Lassen Sie die Stöcke vernichten«, wies sie ihren Kellermeister an. »Wir werden die Lese vorziehen und retten, was noch zu retten ist.«
    Helena war sich darüber im Klaren, dass die verfrühte Lese der Qualität des Weins schaden würde. Aber was sollte sie sonst tun?
    Nachdem der erste Schock vergangen war, kamen ihr die Tränen. Sie weinte nur ungern vor ihren Leuten. Aber seit sie in anderen Umständen war, reagierte sie wesentlich emotionaler auf ihre Umwelt.
    Bergau reichte ihr sein Taschentuch. »Keine Sorge, Frau de Villiers, das kriegen wir in den Griff. Im Badischen sucht man bereits nach einer Lösung. Vielleicht können wir ja einige Stöcke retten.«
    Helena nickte. Die Tränen kullerten weiter. Warum gerade jetzt? Ist das der Preis dafür, dass mein Kinderwunsch endlich in Erfüllung gegangen ist?
    Dankbar nahm sie Bergaus Taschentuch an. Über der verschlissenen Spitzenborte waren die Initialen A. B. eingestickt. Agnes Bergau, seine Frau, war erst vor wenigen Monaten an Krebs gestorben.
    Während Bergau auf den Hof zurückkehrte, um die Arbeiter zu holen, blickte Helena wie betäubt ins Lahntal. Mehrere tausend Rebstöcke standen auf den Hängen Spalier wie Soldaten bei einer Parade. Ein wunderbarer Anblick, besonders jetzt, wo sich die Blätter allmählich gelb und rot verfärbten.
    Papas ganzer Stolz, dachte sie. Werde ich ihn bewahren können?
    Noch sehr gut erinnerte sie sie sich an den Tag, an dem sie die Herrin von Lilienstein wurde. Der Verlust ihrer Eltern hatte sie furchtbar mitgenommen, aber sie hatte sich zusammengerissen und die Arbeit angepackt. Weder die konkurrierenden Winzer noch düstere Prophezeiungen seitens ihrer Neider hatten sie davon abgehalten, erfolgreich zu sein. Wahrscheinlich werden sie sich höhnisch die Mäuler über mich zerreißen, wenn sie erfahren, dass wir Rebläuse haben, dachte sie nun.
    Erneut brummte es über dem Weinberg. Als Helena aufsah, schoss Laurents Maschine über sie hinweg. Hat er gesehen, was hier los ist?
    Plötzlich stotterte der Motor. »Oh, mein Gott!«, schrie Helena, als schwarzer Rauch aus dem Triebwerk drang.
    Mit angehaltenem Atem beobachtete sie die Rauchspur am Himmel. Bilder und Erinnerungen schossen blitzartig durch ihren Kopf: Laurents zärtliches, leidenschaftliches Gesicht über ihr, Laurent, der sie zum Abschied küsste, Laurents glühende Liebesworte ...
    Vor Angst und Anstrengung wimmernd, erklomm Helena den Hang. Zwischendurch stolperte sie, aber sie rappelte sich schnell wieder auf.
    Vielleicht schafft er es noch.
    Ein Schwindel zwang sie, Atem zu schöpfen. Obwohl Seitenstiche einsetzten, lief sie weiter und ignorierte, dass ihr Weinblätter ins Gesicht klatschten. Als sie den Gipfel der Anhöhe beinahe erreicht hatte, krachte es markerschütternd und der Boden erzitterte unter ihren Füßen. Alle Kraft zusammennehmend, kämpfte sich Helena nach oben. Nein! Er darf nicht abgestürzt sein. Bitte, bitte, lieber Gott, mach, dass er überlebt!, flehte sie. Er darf nicht sterben.
    Oben angekommen sah sie eine Rauchsäule. Der Wind wehte den Gestank von Treibstoff zu ihr hinüber.
    »Laurent!«
    Schluchzend mühte sie sich durch Weinstöcke und Gestrüpp, bis sie schließlich das benachbarte Feld erreichte. Sie spürte weder die Stoppeln des abgeernteten Getreides unter den Schuhsohlen, noch bemerkte sie die zu Hilfe eilenden Männer.
    Er lebt, redete sie sich verzweifelt ein. Er hat es sicher irgendwie geschafft.
    Sie lief auf das flammende Inferno zu, bis die Hitze sie stoppte. Ihre Lunge brannte, und ihre Schläfen pochten. Schwarze Punkte trübten ihre Sicht, aber sie starrte erwartungsvoll in die Flammen.
    Doch Laurent erschien nicht.
    Die schmerzliche Erkenntnis raubte Helena den Atem: Nie wieder werde ich ihn in den Armen halten. Und er wird nie erfahren, dass ...
    Da zerriss eine Explosion die Stille, und die Druckwelle schleuderte Helena zu Boden.
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