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Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)

Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)

Titel: Die neue Umverteilung: Soziale Ungleichheit in Deutschland (Beck'sche Reihe) (German Edition)
Autoren: Hans-Ulrich Wehler
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Einleitung
    Vor kurzem noch galt es unter namhaften deutschen Soziologen als chic, anstelle der harten Barrieren der Sozialen Ungleichheit die bunte Vielfalt der Individualisierung und Pluralisierung zu beschwören. Anstatt die Hierarchie der Klassenformationen, auch der Eliten und der Unterschichten, zu analysieren, wurde stattdessen die Vorherrschaft vager Milieus und diverser Lebensstile ins Feld geführt. Die alldem widersprechenden empirischen Ergebnisse der realistischen Sozialwissenschaftler und Sozialhistoriker, die den Formwandel, aber eben auch die hartnäckige Resistenz der Ungleichheitsstrukturen unterdessen weiter herausarbeiteten, wurden von dieser modischen Denkschule kurzerhand ignoriert. Ihr folgten aber Teile des gehobenen Feuilletons und Sprecher der politischen Klasse nur zu bereitwillig, da der in Deutschland noch immer als marxistisch verpönte Klassenbegriff und die Realität der in Klassen gegliederten Marktgesellschaft auf diese Weise sprachkosmetisch verdrängt werden konnten.
    Deshalb war es vielleicht folgerichtig, wegen der Abwegigkeit dennoch überraschend, dass ebenfalls noch vor kurzer Zeit die Prominenz aller politischen Lager in einer denkwürdig bizarren Diskussion sich unisono darin einig fand, dass es hierzulande überhaupt keine Unterschichten gebe. Aufgrund dieser verblüffenden Realitätsblindheit bemühte sie sich heftig darum, die Bundesrepublik als einziges Land der Welt ohne Unterschichten zu präsentieren – offenbar eine hierarchiefreie Insel der Glückseligen. Der flugs geltend gemachte, auf die Existenz der Unterklassen zielende Begriff des «Prekariats» konnte sich – zwar verschämt eingefärbt, doch auch um Wirklichkeitsnähe bemüht – nicht durchsetzen. Allzu weit blieb dieses semantische Verlegenheitskonstrukt von dem vertrauten Vokabular der Umgangssprache entfernt.
    Inzwischen hat die soziale Realität all diesen Sprachspielen ein unmissverständliches Dementi entgegengesetzt. Auf der einen Seite: Abermillionen von Arbeitslosen; die zumal in Ostdeutschland, aber auch in westdeutschen Industrierevieren zu besichtigenden geradezu altertümlichen Formen krasser Ungleichheit; die Lage zahlreicher Hartz IV-Empfänger. Auf der anderen Seite: der obszöne Anstieg von Managergehältern in schwindelerregende Höhen; die Selbstbereicherung mit spektakulären Bonuszahlungen und Vorzugsaktien als begehrte Zusatzbelohnung für eine bereits übermäßig honorierte Leistung; die steile Gewinnsteigerung der Unternehmen bei gleichzeitiger, jahrelang währender Stagnation der Realeinkommen der Erwerbstätigen. Solche dramatischen Signale haben die Problematik der Sozialen Ungleichheit erneut unabweisbar auf die Tagesordnung gesetzt.
    Der von einem blindwütigen, grenzenlos habgierigen Turbokapitalismus verursachte Zusammenbruch der internationalen Finanzmärkte, parallel dazu die seit 1929 schlimmste Depression der Realwirtschaft werden diese Problematik auf absehbare Zeit noch weiter verschärfen. Ihr Druck wird auch die Sozialwissenschaftler wieder zu kritischeren Analysen, die Teilnehmer an der öffentlichen Diskussion zu einer realistischeren Sprache nötigen.
    Mit der Zunahme der Sozialen Ungleichheit ist nicht nur eine enorme Belastung des Sozialstaats, sondern auch eine Veränderung der Mentalität, mit der die soziale Realität wahrgenommen und verarbeitet wird, unausweichlich verbunden. Als Folge dieses Perzeptionswechsels taucht ein genuin politisches Problem auf: Mit verschärfter Ungleichheit wird, über kurz oder lang, die Legitimationsgrundlage des politischen Systems durch wachsende Zweifel in Frage gestellt. Denn die Glaubwürdigkeit der modernen sozialstaatlichen Massendemokratie beruht vor allem darauf, dass sie eine allzu schroffe Ungleichheit der Lebenslagen erfolgreich bekämpft, die Gleichheitschancen überzeugend vermehrt statt vermindert. Kurzum: Die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit gewinnt eine neue Dringlichkeit, so sehr auch überzeugende Kriterien des Zustands, wann sie denn verwirklicht sei, zu bestimmen sind und so umstritten ihre normativen Grundlagen auch sein mögen. Soziale Gerechtigkeit – dieser Topos wird zum «Dauerbrenner» der innenpolitischen Diskussion in den kommenden Jahren aufsteigen.
    Während dieser Debatte geht es zum einen darum, mit allen Kräften und mit Hilfe aller Ressourcen das Dauerphänomen der aufklaffenden Sozialen Ungleichheit auf ein erträgliches Maß abzumildern. Daran muss sich auch die
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