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Wenn ich dich gefunden habe

Wenn ich dich gefunden habe

Titel: Wenn ich dich gefunden habe
Autoren: Ciara Geraghty
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eigentlich Angela, wurde aber von allen Angel genannt, und selbst jetzt, mit achtundzwanzig, hatte sie noch immer etwas Ätherisches an sich, mit ihren feinen blonden Haaren und ihren großen, unglaublich blauen Augen, die so voller Hoffnung und Zuversicht waren – zwei ureigene Charaktereigenschaften, die Angel auszeichneten und die Dara praktisch fremd waren.
    »Komm, wir müssen los«, mahnte sie und zupfte Angel die Haarsträhne aus dem Mundwinkel.
    »Könntest du Joe anrufen?«, flüsterte Angel. »Ich habe ihm versprochen, dass ich mich melde, wenn sie anrufen. Er will dabei sein. Im Krankenhaus, meine ich. Aber ich …« Sie verstummte, und Dara konnte die Spannung spüren, die in der Luft lag. Sie schien zu knistern wie Elektrizität.
    »Ich rufe ihn an.« Dara eilte die Treppe hinauf, um ihr Handy zu holen. Angel litt an terminaler Niereninsuffizienz. Es klang schrecklich endgültig, aber genau so nannten es die Ärzte. So lautete der korrekte medizinische Fachausdruck. Dara hatte alles darüber gelesen.
    Mit zitternden Fingern tippte sie Joes Nummer ein. Sie hatte seinen Namen eigentlich in ihren Kontakten gespeichert, konnte ihn aber nicht finden. Doch sie wusste die Nummer auswendig – eine Kombination aus Angels Geburtstag und der Zahl sechs. Mit solchen Eselsbrücken
prägte sie sich Zahlen ein. Trotzdem benötigte sie drei Anläufe, bis es endlich klingelte. Sie verfluchte sich für ihre mangelnde Belastbarkeit in Stresssituationen.
    »Dara? Was ist passiert?«
    »Joe? Ich bin’s, Dara.« Sie verfluchte sich erneut. Warum sagte sie am Telefon immer wieder Dinge, die ihre Gesprächspartner bereits wussten? Noch ein Anzeichen für ihre mangelnde Belastbarkeit in Stresssituationen. »Es ist nichts passiert, keine Sorge.«
    »Geht’s Angel gut?«, fragte Joe hastig und hielt gespannt den Atem an.
    »Ja, alles bestens«, beeilte sie sich zu sagen. »Sie haben angerufen, gerade eben. Das Krankenhaus, meine ich.«
    »Sie haben eine Niere?«
    »Sie haben eine Niere.« Dara musste sich setzen, als sie es aussprach. Es erschien ihr unwirklich, hatte sie doch fünf Jahre lang gewartet und geträumt, gehofft und gebetet, zu einem Gott, an den sie ohnehin nicht glaubte. Fünf Jahre der Enttäuschung bei jedem Klingeln des Festnetztelefons. Sie fragte sich flüchtig, ob es bloß einer ihrer Tagträume war, die sie manchmal hatte, wenn sie zu viel Käse aß, und in denen die Welt golden und hell war und alles einfacher war, als man angenommen hatte. Doch dann sah sie Mrs. Flood mit ihrer Friseurtasche die Treppe hinunterlaufen (»Man kann ja nie wissen, stimmt’s?«), die rechte Hand zur Faust geballt und triumphierend in die Höhe gereckt, was eine für sie derart untypische Geste war, dass es wahr sein musste.
    »Wir machen uns jetzt auf den Weg ins Krankenhaus«, sagte Dara zu Joe.
    »Ich bin in zwanzig Minuten dort«, sagte er und legte auf.
    Dara schnappte sich Angels Autoschlüssel, ihre Tasche und ihren Mantel und schob Mutter und Schwester durch die Haustür.
    »Du kannst nicht fahren, Dara«, sagte Mrs. Flood mit einem besorgten Blick auf den Schlüsselbund in Daras Hand. »Wir müssen heil im Krankenhaus ankommen.«
    »Ich fahre«, sagte Angel rasch und schob sich zwischen sie. Selbst jetzt. »Du hast noch den Probeführerschein, und …«
    »Du kannst dich doch nicht selbst ins Krankenhaus fahren«, wehrte Dara ab.
    »Aber wir müssen so schnell wie möglich hin, und …« Angel verstummte sichtlich hin und her gerissen. Sie wollte einerseits nicht unfreundlich sein, andererseits wollte sie einfach möglichst rasch zum Beaumont Hospital. Dara hatte erst kürzlich den Führerschein gemacht und fuhr so langsam und ängstlich wie eine verhutzelte alte Dame, sehr zum Missfallen ihrer Passagiere. Beim Parken fehlte ihr die nötige Übung, vom räumlichen Vorstellungsvermögen einmal ganz abgesehen, weshalb sie dazu neigte, mit den Seitenspiegeln diverse unbelebte Objekte wie Mauern oder anderer Leute Autos zu streifen.
    »Ich werde fahren wie die Feuerwehr«, gelobte Dara und schickte ein stilles Stoßgebet an den Heiligen Judas Thaddäus, den Patron der hoffnungslosen Fälle, auf dass er seine schützende Hand über ihre Familie – und alle anderen Verkehrsteilnehmer – halten möge.
    Mrs. Flood schwieg. Ihre geschürzten Lippen sagten alles. Sie tauchte die Finger in das kleine Weihwasserbecken, das unter der Marienstatue neben der Tür hing, und bekreuzigte sich. Die Tropfen sammelten sich wie
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