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Wenn ich dich gefunden habe

Wenn ich dich gefunden habe

Titel: Wenn ich dich gefunden habe
Autoren: Ciara Geraghty
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umzugehen«, sagte er lächelnd und zwinkerte ihr zu.
    Doch da war Dara schon achtzehn Jahre alt.
    Als Damien Butler in der Grundschule in ihre Klasse kam, ahnte noch niemand etwas von ihrer Dyslexie. Alle – Mrs. Flood, Daras Lehrer und vor allem Dara selbst – waren zu dem Schluss gekommen, dass Dara eben ein bisschen langsam war. Dazu kam, dass Dara Angels abgelegte Kleider tragen musste, die ihr viel zu weit waren – kein Wunder, war Angel doch ein großes, kräftiges Kind, während Dara klein und dünn blieb. Und auch die Farben, die Pastelltöne, die so gut zu Angels blondem Haar und ihrem hellen Teint passten, wirkten an der blassen, dunkelhaarigen Dara völlig fehl am Platz.
    Damien Butler wurde von allen »Big D« genannt – die meisten sagten es voller Ehrfurcht; die wenigen, die Big D ihren Freund nennen durften, mit einstudierter Lässigkeit.
    Dara ging ihm aus dem Weg. Sie sonderte sich ab, wie sie das ohnehin vom ersten Schultag an getan hatte. Wenn sich ihre Mitschüler mit unverhohlener Neugier nach dem Verbleib von Mr. Flood erkundigten, wünschte sie oft, sie wäre so wie Angel, die auf solche Fragen mit einem Lachen reagierte und »das geht dich einen feuchten Kehricht an« erwiderte. Doch es nützte alles nichts, genau wie ihr alljährliches vorweihnachtliches Bitten und Betteln um einen Hund.
    Big D musste Dara also nicht erst von der Herde trennen. Sie war bereits die Außenseiterin. Das perfekte Opfer.
    Seit Dara auf die Mittelschule gewechselt hatte, die sich am anderen Ende von Raheny befand, musste sie den Schulweg allein zurücklegen, und Big D passte sie jeden Tag ab. Er wartete hinter einem Baum oder einem Auto oder in einer Seitenstraße auf sie.
    Erst waren es nur verbale Attacken. Die üblichen Geschmacklosigkeiten über ihren Vater und die möglichen Gründe seines Verschwindens.
    »Weißt du, warum dein Daddy abgehauen ist? Weil er deine hässliche Visage gesehen hat, als du aus deiner Mutter rausgeflutscht bist.«
    »Was schenkst du deinem Daddy zum Vatertag? Eine Anfahrtsbeschreibung zu eurem Haus?«
    Einmal spuckte er ihr ins Gesicht. Dara wischte die Spucke nicht ab, sondern ließ sie an ihrem Gesicht hinunterlaufen, bis sie ihr vom Kinn troff.
    Sie versuchte alles.
    Sie stellte sich nach dem Unterricht ganz vorn in die Schlange am Schultor und rannte los, sobald die Klingel ertönte. Sie blieb nicht einmal stehen, als ihr ihre Pausenbrotdose aus den verschwitzen Händen glitt und klappernd im Rinnstein landete.
    Big D holte sie ein.
    Meistens nahm er ihr etwas weg. Ihr Mittagessen, das Federmäppchen, die juckenden Wollmützen, die ihre Mutter für sie strickte oder die paar Münzen, die sie ihr am Freitagmorgen immer auf den Küchentisch legte.
    Big D erkannte schon bald, dass Dara ihn nicht verpetzen würde. Er fing an, ihr weh zu tun. Er kniff sie in die Arme; sie versteckte die Blutergüsse unter dem Pulli. Er
schubste sie im Schulhof, umringt von seiner Clique, damit es niemand sah. Dara wartete ab, bis sie zu Hause war, ehe sie die Kieselsteine aus ihren aufgeschürften Knien pickte.
    Morgens auf dem Schulweg musste sie sich zu jedem einzelnen Schritt zwingen. Sie kam oft zu spät, und ihre Leistungen, die schon vorher nicht überragend gewesen waren, wurden noch schlechter. Sie schlief im Unterricht ein. Man beorderte ihre Mutter in die Schule. Abends setzte es eine Standpauke in der Küche. Dara versprach, sich mehr Mühe zu geben.
    Es war Angel, die schließlich dahinterkam.
    »Woher hast du denn die Schramme da am Bein?«
    »Ich bin im Hof hingefallen.«
    »Schon wieder?«
    »Ja.«
    »Der Bluterguss an deinem Arm ist auch neu.«
    »Da habe ich mich gestoßen.«
    »Ach, komm.«
    »Doch, ehrlich. Ich hab nicht aufgepasst, wo ich hinlaufe.«
    Dara wusste, Angel könnte so etwas nie passieren. Sie würde es sich nicht gefallen lassen. Deshalb verschwieg sie es ihr. Sie schämte sich für ihre Schwäche. Ihre Feigheit.
    An einem Freitagnachmittag legte sie wie üblich den Nachhauseweg im Laufschritt zurück, verfolgt von Big D, einem dunkelblauen Blitz. Dara konnte ziemlich schnell laufen, allerdings nicht besonders lange. Hätte es an ihrer Schule anstelle des Geländelauf-Teams ein Hundertmeterlauf-Team gegeben, dann wäre für Dara Flood vielleicht alles anders gewesen. Sie passierte soeben die Ladenzeile, als Big D sie einholte und sie an ihrer Kapuze in die schmale Gasse zwischen der Fleischhauerei und dem Gemüseladen
zerrte. Die aufgeknöpfte Kapuze löste
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