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Wenn ich dich gefunden habe

Wenn ich dich gefunden habe

Titel: Wenn ich dich gefunden habe
Autoren: Ciara Geraghty
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Lieblingsessen vor die Tür. Obst in mundgerechten Stückchen, geschält und entkernt. Wasser und Saft. Eine Pastete, gefüllt mit Rindfleisch und Nierchen, die ironischerweise Angels Leibspeise war. Ein Stück Karottenkuchen, in Daras Augen eine der wirkungsvollsten Speisen aus der Kategorie Seelentröster. Ob das am Namen lag? Vielleicht gibt es einem ja ein besseres Gefühl, wenn man einen Kuchen isst, der nach einer Gemüsesorte benannt ist.
    Später trug Dara die Teller, Gläser und Schüsseln wieder in die Küche. Selbst der Karottenkuchen war unangetastet.
    »Joe ist am Telefon«, rief sie durch die Tür. Das war bereits sein dritter Anruf. »Er sagt, er kommt vorbei.«
    Keine Antwort.
    Mrs. Flood hatte sich hingelegt und klagte über Migräne. Dara brachte ihr Tabletten und ein Glas Wasser. Im Schlafzimmer ihrer Mutter herrschte eine schiefe Symmetrie, bei der das riesige Bett die Mitte bildete. Mrs. Flood schlief links, auf der rechten Seite waren die frisch gewaschenen Laken straff gezogen, als hätte Mr. Flood keine einzige Nacht hier verbracht. Auf dem linken Nachttisch stapelten sich Bücher, Zeitschriften, Lockenwickler, Föhn und Glätteisen, der rechte war leer, bis auf eine dicke Staubschicht und ein Paar Manschettenknöpfe, die mit der Zeit fleckig geworden waren. Zwei Kleiderschränke, der eine so voll, dass seit Jahren die Türen nicht mehr zugingen, der andere enthielt genau einen Anzug – »für etwaige Beerdigungen«, wie Mr. Flood gesagt hatte – eine Hose, drei Hemden, ein Paar Turnschuhe ohne Schnürsenkel, ein lädiertes Paar Stiefel und einen grünen Pullover mit einem Loch am Ellbogen. Wenn man die Schranktür schloss, klimperten die leeren Metallbügel leise eine unheimliche Melodie.
    Als Dara eine Stunde später einen Blick ins Schlafzimmer warf, hatte ihre Mutter die Augen geschlossen, wirkte aber nicht so, als würde sie schlafen. Sie trug noch ihre Arbeitsmontur, und ihr sonst so glänzendes, gesundes Haar erweckte einen ungepflegten Eindruck, dabei sagte sie selbst stets, ihr flotter Pagenschnitt sei die beste Werbung für Haarmonie . Der Anblick brach Dara fast das Herz.
    Als Angel auch am nächsten Tag ihr Zimmer nicht verließ, streckte die Angst ihre langen, knochigen Finger nach Daras Herz aus.
    Sie war ihr nicht neu, diese Angst.
    Zuletzt hatte sie sie verspürt, als sie von Angels terminaler Niereninsuffizienz erfahren hatte.
    Das erste Mal lag Jahre zurück. Dara war damals eine klein geratene, klapperdürre Zwölfjährige mit dunkelblauen Augen gewesen. Von ihrer Dyslexie wusste zu dem Zeitpunkt noch niemand; sie galt an ihrer Schule lediglich für nicht besonders helle, weil sie nur stockend lesen konnte und dabei den Zeigefinger unter der Zeile entlangführte. Dann waren da noch ihre schnörkelige Handschrift und die Tatsache, dass sie selbst die einfachsten Wörter falsch schrieb, nämlich immer so, wie man sie aussprach. Als sie in der dritten Klasse war, sagte eine Lehrerin zu Mrs. Flood, Dara sei »im Grunde Analphabetin«. Dara wusste nicht genau, was das bedeutete, aber als Mrs. Flood die Formulierung abends wiederholte, kam Dara zu dem Schluss, dass es – dem anklagenden Tonfall ihrer Mutter nach zu urteilen – nichts Gutes war. Erst als sie in der sechsten Klasse Mittelschule mit Mr. Horan einen neuen Mathelehrer bekam, wurde ihr Problem entdeckt. Mr. Horan hatte dunkles, kurz geschorenes Haar, blasse Haut und große braune Augen, und am kleinen Finger trug er einen breiten Silberring, der mit seinen wunderlichen Gravierungen Fantasien von einem geheimnisvollen Eingeborenenstamm in den Bergen eines fernen, fremden Landes weckte. Er hatte auch eine Tätowierung am rechten Handgelenk, die er offen zur Schau stellte, obwohl der Schuldirektor strikt gegen jede Art von Körperkunst war. Es handelte sich um einen in einer winzigen Schrift verfassten mehrzeiligen Text, über dessen Inhalt endlose Spekulationen kursierten. Da Mr. Horan oft lange neben Dara kauerte, um ihr etwas zu erklären, wusste sie, was dort stand, behielt es jedoch für sich. Sie fand, er habe ein Anrecht auf seine Privatsphäre, sofern es so etwas für die beiden einzigen männlichen Lehrer an einer Mädchenschule,
in der es naturgemäß vor weiblichen Wesen wimmelte, überhaupt gab.
    Mr. Horan wusste wie gesagt gleich, was Sache war.
    »Du hast bloß Dyslexie«, sagte er fröhlich.
    »Ist das heilbar?«, fragte Dara, die sich darunter nichts vorstellen konnte.
    »Man kann lernen, damit
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