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wenn es Zeit ist

wenn es Zeit ist

Titel: wenn es Zeit ist
Autoren: Florian Tietgen
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mich ungläubig an.
    »Vielleicht sollte es mich verletzen. Aber das tut es nicht.« Ich fühle mich wirr und matt, ein bisschen traurig, aber auf eine gewisse Art auch zufrieden. »Es war gut, ihn zu besuchen. Ich habe zwar nicht erfahren, was ich wissen wollte, aber etwas begriffen, das ich noch nicht in Worte fassen kann.«
    Ihrem Blick sehe ich an, dass sie mich nicht versteht. Vielleicht kann sie das auch nicht.
    »Gut«, sagt sie. »Wollen wir noch etwas zusammen machen oder möchtest du nach Hause?«
    »Nein, nicht nach Hause. Lass uns einfach ein Stück den Alsterwanderweg entlanggehen. Oder den Erdkampsweg hoch. Da bin ich lange nicht gewesen.«
    Michi steht auf. »Der Erdkampsweg ist doch auch langweilig.«
    Wir gehen an der verhängnisvollen Schleuse den Woermannsweg entlang, am Wienerwald vorbei bis zum Erdkampsweg, der Straße, in der ich die ersten dreizehn Jahre meines Lebens verbracht habe.
    N icht nur ich habe mich in diesen Jahren verändert. Der Fischhändler, der seine Waren immer mit den Worten »wie Marzipan« angeboten hat, ist nicht mehr da. Das Haus wurde abgerissen. Aber das kleine Elektrogeschäft gibt es noch. Auch das Kaffeegeschäft, das den Kaffee selbst röstet.
    Es gibt nichts zu reden zwischen Michi und mir. Schweigend registriere ich, was geblieben ist und was sich geändert hat, während wir Hand in Hand durch meine Heimat schlendern.
    Vor dem Erdkampsweg 49 bleiben wir stehen. »Hier war unser Garten.«
    Michi schaut auf die kleinen Glasscheiben in der Tür, auf die kleinen Vorgärten und die beiden Garagen, die nicht mehr benutzt werden. »Den willst du dir jetzt aber nicht ansehen?«, fragt sie.
    Ich wüsste gern, ob er mir immer noch so groß vorkäme und wie klein die Hütte darin in Wirklichkeit ist. Ich weiß nicht, ob er meinem Vater noch gehört. Ich kann dort nicht einfach hingehen, obwohl ich immer noch den Schlüssel für die Haustür habe.
    »Hast du ihn dabei?«
    Ich suche einen Schlüssel an meinem Bund und zeige ihn Michi. Ich kenne doch ihre Neugier. Und doch überrumpelt es mich, als sie mir das Bund aus der Hand nimmt und die Tür öffnet. Zum Glück begegnen wir niemandem.
    »Wir müssen bis zum Ende gehen.« Die an den Rändern sind gepflegt, der Rasen ist an einigen _Stellen ausgetreten. Spielzeug liegt im Gras, unser Haus ist neu gestrichen. Alles zeugt von neuen Besitzern. »Lass uns gehen«, flüstere ich und wie durch ein Wunder gehorcht Michi.
    Vorbei an der Produktion gehen wir an den Wohnhäusern entlang. Dort, wo früher ein Tapetengeschäft war, ist jetzt ein Blumenladen, wo der Blumenladen war, ein Geschäft für Malerbedarf. Wir gehen weiter bis zur Lukaskirche, deren spitzer Turm wegen der landenden Flugzeuge irgendwann abgerundet werden musste. Dort biegen wir ab, um zum Hotel von Michis Eltern zu gehen. Ich genieße die langweilige Normalität, die Sonne, an die ich mich wieder gewöhnt habe und hoffe auf ein Eis, bevor ich mit meiner Mama nach Hause fahre.
     

Vom Luft holen (1976)
     
    Jan hat sich für den ersten Weg entschieden. Er weicht mir nicht aus, sondern noch seltener von meiner Seite. Wenn ich in die Schule komme, steht er schon am Tor, wartet auf mich und in den Pausen setzt er sich zu mir, als wäre alles wie immer.
    Und für mich ist es das auch. Ich sehe sein Gesicht, seine vollen Lippen und die warmen Augen, den blauen Nieselregen um die braune Haut und möchte ihn küssen. Aber das verschiebe ich auf die Gedanken vor dem Einschlafen.
    Manchmal spüre ich an einem Blick, er möchte es auch. Aber er meidet streng jede Berührung. Wenn er mich am Schultor begrüßt, gibt er mir nicht mehr die Hand. Das ist die einzige Veränderung.
    Es ist nich t ungewöhnlich, dass wir uns nie besuchen. Das haben wir ja nur in zwei Ausnahmefällen getan. Wir haben den alten Abstand wieder hergestellt, auch, wenn ich immer noch den Geschmack seines Kusses in mir trage.
    Es ist toll, wie ruhig das Leben sein kann, wenn nichts passiert. Am Montag noch hatte ich befürchtet, durchzudrehen, hatte Stimmen gehört und Bilder gesehen. Doch das Leben ging einfach weiter. Jan hat den Kuss überstanden, war schon am Dienstag wieder in der Schule nichts ist ihm passiert. Vielleicht ist es eine trügerische Sicherheit, die mich beschleicht. Auch Jörg kam ja noch ein paar Monate nach unserem Tag im Schwimmbad regelmäßig morgens zum Training.
    Ein Abend mit Michi und ein ruhiger Spaziergang mit ihr an einem sonnigen Nachmittag können das Leben wieder gerade
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