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wenn es Zeit ist

wenn es Zeit ist

Titel: wenn es Zeit ist
Autoren: Florian Tietgen
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Gabe, trotz allem kannst du Menschen heilen. Nutze es, anstatt es als Fluch zu sehen und dich damit kaputt zu machen. - Darf ich den Brief deiner Oma lesen?«
    Ich nicke, gehe in mein Zimmer, hole die Kiste aus dem Bettkasten, löse den Brief aus dem Deckel und gebe ihn Michi. Sie liest aufmerksam und mehrere Male. Ich folge ihren Augen und nehme mir eine neue Zigarette.
    »Da steht nur etwas von deinem Vater als Prüfung. Damit könnte doch das gemeint sein, was ich dir eben gesagt habe. Er hat dir Gewalt beigebracht. So exzessiv, wie er das gemacht hat, ist es sogar erstaunlich, wie selten du bisher zugeschlagen hast. Du hast das gut unter Kontrolle. Ich jedenfalls fühle mich von dir nicht bedroht. Die Prüfung könnte also sein, seinen Weg der Gewalt zu verlassen.
    Die Homosexualität nimmt deine Oma als gegeben hin. Man könnte sagen, sie ermutigt dich, sie zu leben. Wenn sie wirklich so prophetisch war, hätte sie nicht auch die Anima als Prüfung bezeichnet? Hätte sie dann nicht geschrieben, enthalte dich deiner Liebe? Kein Wort davon. Auch schreibt sie nicht, du würdest mit dieser Liebe töten. Das ist nur dein Hirngespinst.« Michi reicht mir den Brief zurück. Ich schweige. Als mir die Stille peinlich wird, stehe ich auf und klebe den Zettel wieder in den Deckel der Kiste. Die tausend »Aber«, die in meinem Kopf schwirren, bekomme ich nicht zu fassen. Sie möchten widersprechen, sind aber zu stumpf. Es sind nur Gedanken der Angst, die sich im Moment nicht gegen die simple Zuversicht meiner Freundin durchsetzen können.
    »Danke«, sage ich grinsend, als ich zurückkomme. »Jetzt muss ich nur noch Jan davon überzeugen.«
    »Das wird schwer. Sein Glaube ist mit der Angst vor den Moralvorstellungen seiner Eltern verknüpft, sein schlechtes Gewissen, wenn ihr euch küsst, mit dem strengen Blick seiner Mutter. Deine Mutter würde dich nie dafür verurteilen. Du möchtest sie nur nicht enttäuschen.«
    Wieder weiß ich keine Antwort.
    »Weshalb hast du eigentlich heute so früh Feierabend?« Ein Stück hat sie den alten Henrik in mich geredet. Der möchte weg von sich, entspannendere Themen haben und seinen Alltag wieder. Der ließ sich schon immer lieber erzählen, als von sich zu reden.
    »Diese Woche bin ich in der Berufsschule.«
    Michi bleibt noch, isst mit meiner Mama und mir zu Abend, bevor sie geht. Als sie fort ist, mache ich meine Hausaufgaben bis meine Mutter an die Tür klopft.
     

Vom bleibenden Verdacht (1976)
     
    »Henrik, Telefon.«
    Jan? Vielleicht hat er es sich ja überlegt? Vielleicht möchte er mir sagen, ihm sei es egal, was seine Kirche oder seine Eltern zu unserer Freundschaft sagen? Etwas überhastet komme ich aus meinem Zimmer.
    »Ein Herr Siebert?«, sagt meine Mutter fragend.
    Siebert? Der Name sagt mir nichts. Deutlich langsamer gehe ich ans Telefon und melde mich.
    »Hallo Henrik.« Nie hatte ich mich für seinen Namen interessiert. Selbst, als ich von der Visitenkarte seine Telefonnummer gewählt habe, hatte ich nicht darauf geschaut. Aber die Stimme des Journalisten erkenne ich sofort.
    »Ah, hallo.«
    »Die Sache mit dem toten Jungen in der Ohlsdorfer Schleuse ist wirklich merkwürdig«, sagt er. »Vielleicht hast du mich da auf eine gute Geschichte gebracht.«
    »Wieso?«
    »Der Mörder wurde tatsächlich nie gefasst. Und mehr noch. Anscheinend wurde der Junge nie identifiziert. In unseren Archiven findet sich ein Artikel mit Bild von der Leiche. Die Polizei hat damals um Mithilfe gebeten, weil sie den Jungen anhand der Vermisstenanzeigen nicht zuordnen konnte.
    Ich habe mal vorsichtig einen Freund bei der Krip o gefragt. Der wurde etwas misstrauisch, als ich ihn auf den Fall ansprach, fragte gleich, ob ich etwas wüsste, das ich vor ihm verberge.«
    Meine Mutter steht hinter mir, sieht mich an. ›Worum geht’s?‹, fragt ihr Blick. Ich nicke, um ihr zu zeigen, es ist alles in Ordnung. Vor ihr mag ich die Frage nicht stellen. Ich komme mir albern vor. Sie mag mit meinem Vater abgeschlossen haben. Wir können über ihn reden. Aber ich weiß nicht, wie sie reagiert, wenn ich ihn solch einem Verdacht aussetze.
    »Wenn die Polizei jemanden verhaftet, dann nimmt sie doch dessen Fingerabdrücke. Gleicht sie die auch mit denen ungeklärter Fälle ab?«
    »Grundlegend ja. Ich bin sicher, sie hätten die Fingerabdrücke aller später festgenommenen Sexualstraftäter mit denen an dem Jungen verglichen. Aber der lag zu lange in der Alster. Da gab es keine. Worauf willst du hinaus?
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