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wenn es Zeit ist

wenn es Zeit ist

Titel: wenn es Zeit ist
Autoren: Florian Tietgen
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gesehen?«
    »Wie bitte?« Langsam sickerten die Worte in mein Gehirn, rissen mich aus der einen Realität in die andere, und als Michi den Satz wiederholte, begriff ich, dass ich ihn doch gehört und verstanden hatte.
    »Scheiße.«
    »Warum?«
    »Ich werde von der Schule fliegen.«
    »Ich weiß, wo er wohnt. Du könntest es wie mit meiner Nase machen.«
    Kurz schaute ich auf. Daran, wie sie lachte, konnte ich erkennen, wie blöde ich gerade aussehen musste.
    »Du könntest ihm den Arm küssen.«
    »Und was soll das bringen?«
    Sie sah mich mit einem Blick an, der jede Verarschung ausschloss, ernst, eindringlich, mi r direkt in die Augen. »Ob du es glaubst oder nicht. Die Nase war gebrochen. So etwas spürt man.«
    »Du spinnst.«
    Michi schüttelte den Kopf. »Ich muss los. Vielleicht überlegt Herr Blatz es sich noch mal, wenn ich ihm erzähle, was passiert ist.«
    Der Verkehr kam zurück in mein Bewusstsein. Ich hörte die Autos wieder , hörte klackende Absätze und einen Jungen an der Hand seiner Mutter schreien.
    »Bis morgen«, verabschiedete Michi sich lächelnd.
    E ndlich konnte ich gehen und verzweifelt darüber sein, was ich getan hatte, grübeln, was passierte, wenn ich von der Schule flog, weil ich mal wieder drauf losgeprügelt hatte. »Bis morgen«, antwortete ich pflichtschuldigst und wusste, wir würden wieder nur Schüler in Parallelklassen sein.
    Ich trottete in den Garten , der unser Zuhause war. Doch anstatt zu grübeln, pustete ich mir auf den Arm, um zu sehen, ob ich irgendetwas feststellen konnte. Er wurde nur heiß, was bei dem Wetter kein Wunder war. Im Schuppen atmete ich gegen den kleinen Spiegel, der dort hing. Er beschlug wie bei jedem anderen, aber der Sprung in der Ecke blieb. Ich versuchte es mit einer Teekanne, deren Henkel abgebrochen war, doch weder schmolz das Porzellan zu einer weichen klebrigen Masse noch fügten sich die Teile wie durch ein Wunder zusammen. Michi hat sich etwas eingebildet. Am nächsten Morgen erwartete sie mich am Tor zum Schulhof. So habe ich Michi kennengelernt. Dadurch, mich zu vergessen und außer Kontrolle zu geraten .
    Deutschland und die DDR waren der UNO beigetreten, die USA haben den Krieg gegen Nord Vietnam eingestellt und das deutsche Fernsehen hat den Film ›Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Gesellschaft, in der er lebt‹ ausgestrahlt . Alles scheint damals begonnen zu haben.
     

Von Erster Hilfe und beruhigendem Atem (1976)
     
    Ich bestelle amerikanisches Frühstück ohne Frischkäse. Den kann ich nicht ausstehen.
    Michi bestellt sich Leberkäse mit Spiegelei und Bratkartoffeln. »Ich habe schließlich schon gefrühstückt. Bin ja nicht so lch eine Schlafmütze wie du.«
    Als ich nichts erwidere, sondern nur die Zigarette ausdrücke, fährt sie fort. »Außerdem musste ich zum Friseur, Klamotten und die neuen Ohrringe kaufen, um in dem Hotel einen netten Eindruck zu machen. - Schade, dass es dir nicht gefällt.«
    »Wann fängst du an?«, frage ich sie.
    »Du vergisst aber auch alles«, beschwert sie sich. »Morgen. Schließlich bringt es Unglück, eine neue Stelle an einem Montag zu beginnen. – Sagt mein Vater wenigstens.«
    Die Jacke ihres Kostüms scheint sie eher nach ihrem gewünschten Maß gekauft zu haben, vielleicht auch als Ansporn für eine Diät, die sie gar nicht nötig hätte. Aber so, wie Michi immer wieder an dem Stoff zieht, scheint die Jacke eng und unbequem zu sein. Neu ist auch die leicht schräge Haltung, in der meine Freundin mit übereinandergeschlagenen Beinen am Tisch sitzt. »Hast du dich wenigstens ordentlich gelangweilt oder hast du die Liebe deines Lebens kennengelernt?«
    Ich grinse nur. Was hatte ich in den Ferien getan? So wenig, wie ich über die letzten sechs Wochen weiß, k ann es nicht viel gewesen sein.
    »Ach wo«, a ntwortet Michi sich gleich selbst. »Dazu hättest du ja mal die Wohnung verlassen müssen. Weißt du eigentlich, wie blass du bist? Bestimmt hast du die ganze Zeit nur gelesen.«
    »So in etwa«, räume ich ein.
    Michi bestreitet das Gespräch, vielleicht, weil sie es nicht aushält, zu schweigen. Ich kann gut stumm mit ihr im Restaurant sitzen und dabei den stark befahrenen Einbahnstraßenteil der Fuhlsbütteler Straße betrachten, über den sich der Verkehr aus der Innenstadt in Hamburgs Norden quält und über den immer wieder Fußgänger wie beim Slalomlauf mit vollen Plastiktüten von Geschäft zu Geschäft eilen. Ich kann Michi zuhören, die darüber klagt, wie wenig
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