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wenn es Zeit ist

wenn es Zeit ist

Titel: wenn es Zeit ist
Autoren: Florian Tietgen
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schuldbewusst zu Boden zu starren. Aber ich meinte es ja ehrlich.
    »Ich … « einmal kurz die Tränen schlucken, die sich wieder nach oben kämpfen wollten, den Hunger, der im Magen drückte. »… möchte mich entschuldigen.«
    Ihre Wimpern zuckten leicht, der Mund blieb stumm und verschlossen. Ich hatte kein Lächeln erwartet, erst recht keinen Dank, aber ich hatte gehofft, sie sagte etwas. Frau Junge jedoch erwiderte nur meinen Blick. Ich musste ihm standhalten, durfte nicht wegsehen, schließlich meinte ich es doch ernst. Endlich reagierte sie, reichte mir die Hand, zog mich zu sich, nahm mich auf den Schoß und fuhr mit dem Finger zart über meine Wangen. Ich zuckte zusammen.
    »Hast du heute überhaupt schon etwas gegessen?«
    So war es bei Papa nie, wenn ich mich entschuldigt habe. Höchstens knuffte er mir mit seiner starken Faust an die Schulter, sagte »in Ordnung« und spielte mit mir. Aber meistens drehte er sich weg. Frau Junge strich immer noch über mein Gesicht, wartete auf eine Antwort. Ich hatte ihr eine Ohrfeige gegeben. Selbst wenn ich mich entschuldigt hatte, sie musste mich doch bestrafen, anstatt mich zu fragen, ob ich Hunger hatte.
    »Ein bisschen Müsli.« Ich schaute auf meine Beine. Es war nicht die Wahrheit. Die Milch war sauer geworden. Ein neues Paket hatten wir nicht, und bevor wir zum Duschen zur Badeanstalt gingen, hatte noch kein Geschäft geöffnet, in dem wir eines hätten kaufen können.
    »Wenn ich Hunger habe, werde ich auch immer wütend.« Mein Gesicht wurde heißt von der Wärme ihrer Finger. Und die Hitze spülte neue Tränen in die Augen. Ich wagte kaum zu atmen, aus Angst, Frau Junge könnte ihre Hand wegnehmen.
    »Möchtest du lieber einen Apfel oder etwas Brot?«
    Waren die anderen Lehrer eigentlich noch da? Wenn ja, nahm ich sie nicht mehr wahr. Am liebsten hätte ich beides gehabt, aber Frau Junge war schon viel zu nett zu mir. Das hatte ich nicht verdient. Das Obst lag dort auf dem Tisch, als gehörte es jedem, also flüsterte ich: »Einen Apfel.«
    Das hätte ich nicht sagen sollen, denn um an die Äpfel zu gelangen, musste sie aufstehen, um aufstehen zu können, musste sie ihre Hand aus meinem Gesicht und mich von ihrem Schoß heben. Sie drückte mir die Frucht in die Hand, lächelte endlich und sagte: »Das bleibt unter uns.«
    Meinte sie den Apfel oder die Ohrfeige? Ich lief aus dem Lehrerzimmer auf den Schulhof, sah die anderen Kinder, die immer noch spielten, als ertönte der Gong nie. Doch gleich nach meinem ersten Bissen läutete es zum Unterricht.
     
    Sie hat tatsächlich nichts verraten, weder über den Apfel noch über die Ohrfeige. Sie brachte mir allerdings seit diesem Tag immer etwas zu essen mit, saftige Scheiben Brot, die sie mit einem Salatblatt und Wurst oder Käse belegt hatte. Für jede Pause eine.
    Ärger gab es erst, nachdem ein wütender Vater beim nächsten Elternabend gefragt hatte, ob es an dieser Schule üblich wäre, gewalttätige Kinder nicht etwa zu bestrafen, sondern zu belohnen. Alles wäre gut geblieben, wenn er nicht kleinlich genau wiedergegeben hätte, von welch unglaublichen Vorgängen seine Tochter ihm berichtet hätte, wenn er nicht meinen Namen genannt und meine Eltern direkt gefragt hätte, ob sie nicht selbst in der Lage wären, ihr Kind zu erziehen und zu ernähren.
    Ich schlief schon, als meine Eltern aus der Schule zurückkamen, aber bis zum nächsten Morgen wollte mein Vater nicht warten …
     
    Am Tag nach dem Elternabend, als ich mit knurrendem Magen vom Duschen im Schwimmbad in die Schule kam, grinsten meine Klassenkameraden. Sie beobachteten jede meiner Bewegungen. Einer hielt mir eine zerdrückte Banane hin, ein anderer einen faulen Apfel.
    »Du hast doch sicher Hunger . – Lass es dir schmecken. – Hast du den Mülleimer heute schon durchwühlt? – Sollen wir ihn für dich auskippen? – Oder nimmst du Spenden nur an, nachdem du vorher zuschlagen durftest?«
    Alle redeten und lachten durcheinander, hatten sich um mich versammelt, schubsten mich und rümpften die Nase. »Du stinkst!«, rief ein Mädchen. »Kannst du dich nicht waschen?«, fragte ein Junge. »Dein Pullover ist ganz dreckig, könnt ihr euch kein Waschpulver leisten?«
    Sie sahen nicht hin, sie wussten nur und behaupteten ihr Wissen, als stimmte es. Sie hätten für die geröteten Hände, mit denen meine Mama jeden Tag die Wäsche in einer Plastikschüssel wusch, nur Spott und Hohn übrig gehabt. An Armut war man schließlich selbst schuld.
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