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wenn es Zeit ist

wenn es Zeit ist

Titel: wenn es Zeit ist
Autoren: Florian Tietgen
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Niemand sonst hatte sie zu verantworten im Wirtschaftswunderland der siebziger Jahre. Und als Kind eines Armen wurde ich in Sippenhaft genommen. Armut gestattete, auf mich loszugehen. Sie verbot, mich zu wehren. Als ich im Dreck lag, die Kinder mich traten und mir die matschige Banane ins Gesicht rieben, sprang ich auf und schnappte mir Jochen, weil er der Größte von allen war. Ich hielt ihn am Kragen seiner Jeansjacke fest, während ich wütend auf sein Gesicht einprügelte und ihm die Faust in den Magen schlug. Das Blut, das aus seiner Nase floss, machte mich rasend. Ich war wie ein Hund, der, auf den Geschmack gekommen, nicht mehr zu bändigen war, warf den Jungen zu Boden und stürzte mich hinterher.
    Entsetzt standen die anderen Kinder um uns herum. Hallte es sonst bei Prügeleien »Hauze, Hauze, immer in die Schnauze« über den Schulhof, waren die Anfeuerungen jetzt verstummt. Der, den sie angefeuert und dem sie zugejubelt hätten, lag viel zu aussichtslos am Boden, während ich auf ihm saß und auf sein Gesicht eindrosch, bis Herr Blatz, der Direktor persönlich, mit Frau Junge kam, mich an meiner Cordjacke von meinem Opfer zog und mir rechts und links eine Ohrfeige gab.
    »Spinnst du?«, fragte er, sah mich dabei so finster an, wie mein Vater , als der mich am Abend zuvor geweckt hatte, und schubste mich zu der Referendarin. »Du rührst dich nicht von der Stelle.« Dann sah er die umstehenden Schüler an, schüttelte den Kopf und brüllte: »Und ihr geht in eure Klassen. Aber dalli!«
    Frau Junge hielt mich am Kragen fest, drehte ihn dabei wie ein Polizist den Arm eines Schwerverbrechers bei der Verhaftung. Bestimmt war ihr Gesicht steinhart, als sie zischte: »Ich bin enttäuscht von dir Henrik. Sehr enttäuscht.«
    Keine Träne konnte sie erweichen. Sie schubste mich vor sich her, als wir ins Direktorat gingen und dort auf den alarmierten Krankenwagen warteten. Ich musste mich in die Ecke stellen, mit dem Gesicht zur Wand. Das war gut, denn so konnte ich wenigstens weinen. Sah ich Jochen, überkam mich immer noch Wut, hörte ich seine leidende Stimme, wollte ich noch einmal zuschlagen. Aber starrte ich in die Ecke und schaltete meine Ohren zu, konnte ich nachdenken, die Schläge fürchten, die mich am Abend erwarteten, wenn Herr Blatz oder Frau Junge mit meinen Eltern gesprochen hatten.
    Der Direktor rief Jochens Eltern an, erzählte ihnen, was passiert war und fragte anschließend mich, ob er meine auch erreichen könnte.
    »Wir haben nicht mal Strom« , stieß ich trotzig zwischen den Tränen hervor, ohne mich umzudrehen.
    »Ich möchte wissen, warum du flennst?« Der Lautstärke seiner Stimme nach hatte er sich längst schon wieder zu den anderen begeben. Ich hörte Männer kommen, etwas von einem gebrochenen Kiefer und einer Fraktur des Nasenbeins und die Frage an Jochen, ob er zum Krankenwagen gehen könnte. Herrn Blatz bedankte sich bei ihnen. Und fast zärtlich klang er, als er Jochen verabschiedete. Frau Junge hörte ich die ganze Zeit gar nicht.
    »Ihr habt kein Telefon?«, fragte der Direktor mich ein weiteres Mal.
    »Nein.«
    Herr Blatz packte mich an der Schulter und drehte mich um. Erst jetzt sah ich, dass die Referendarin das Büro verlassen hatte. »Gut, dann bringe ich dich nach Hause und rede dort mit deinen Eltern.«
     
    Er hielt mich die ganze Zeit am Hals fest, während wir nach Hause gingen. Seine Finger bohrten sich in meine Nackenmuskeln und ich stolperte ständig. Er hatte viel längere Beine, ging schneller als ich und hatte es in seiner Wut verdammt eilig. Wie einen Schwerverbrecher schubste er mich über den belebten Erdkampsweg. Die Passanten, die Mütter, die einkauften, alle sahen mich an wie einen Delinquenten am Pranger.
    Misstrauisch studierte Herr Blatz die Klingelschilder, während ich den Schlüssel für die Haustür unter meinem T-Shirt hervorzog und aufschloss.
    »Dein Name steht hier nirgends«, brummte er.
    »Meine Mutter ist bestimmt im Garten«, antwortete ich und verschwieg, dass wir dort lebten, seit Kuckuck und Zwangsräumung uns aus der dritten Etage vertrieben hatten. Von Wohnen konnte man nicht mehr sprechen. Hinter den Häusern, jenseits von Strom und Gasleitungen, hockten wir in einer winzigen Gartenlaube. Als Toilette hatten wir im Geräteschuppen der Hütte ein blaues Klo aus Plastik, in dem wir unseren Kot mit einer ätzenden Chemikalienlösung übergießen mussten.
    Fließendes Wasser gab es nur kalt aus einem Hahn, an dem ein Gartenschlauch
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