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Glasklar

Glasklar

Titel: Glasklar
Autoren: Gmeiner-Verlag
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1.
    Der Schuss war tödlich. Ein panischer Schrei gellte durch die spärlich beleuchtete Lagerhalle, dann sackte der Körper in sich zusammen und ein Stück Metall schlug dumpf auf Beton. Als der Nachhall des Schusses in dem leeren Gebäude verklungen war, machte sich beklemmende Stille breit. Der Mann, der geschossen hatte, blieb regungslos hinter dem Betonpfeiler stehen und blickte zu der pechschwarzen Erhebung, die sich knapp zehn Schritte vor ihm auf dem Boden abzeichnete; nur schemenhaft vor dem nachtgrauen Hintergrund einer Betonwand erkennbar. Die Bedrohung, die sich gerade noch in voller Größe vor ihm aufbaute, hatte sich in ein erbärmliches Kleiderbündel verwandelt. Er spürte, wie sich Kälte und Angst seines Körpers bemächtigten und er zu zittern begann. Er hatte Mühe, seine Waffe in die Innentasche der Lederjacke zu stecken. Er tat dies wie in Trance, und sein Atem beschleunigte sich, sein Magen rebellierte. Die Stille, die ihn umgab, schien zu dröhnen. Doch es war nur sein pochendes Blut, das seine Ohren verrücktspielen ließ – und vermutlich der Schuss, der einen Teil seines Hörvermögens vorübergehend gestört hatte. Er versuchte, sich mit allen Sinnen auf verdächtige Geräusche zu konzentrieren. Auf Geräusche oder irgendwelche Bewegungen in diesem grauschwarzen Dunkel, das ihn umgab. Nur das schwache Streulicht zweier Straßenlampen, das durch ein Milchglasband unterhalb der Decke in das Innere dieser alten Lagerhalle drang, machte eine Orientierung möglich. Inzwischen hatten sich seine Augen daran gewöhnt, sodass er durchaus eine Bewegung hätte wahrnehmen können. Er blieb zwei, drei Minuten stehen und stellte beruhigt fest, dass da nichts Verdächtiges war und auch von draußen keine Motorengeräusche hereindrangen. Deshalb beschloss er, das Gebäude zu verlassen – und zwar durch jene Hintertür, die er aufgebrochen vorgefunden hatte. Vorsichtshalber zog er seine Waffe wieder aus der Jacke, um sich dann langsam zu entfernen, noch immer darauf bedacht, die nachtschwarze Umgebung ringsherum im Auge zu behalten. Nach einigen Schritten, bei denen er spürte, wie weich seine Knie geworden waren, blieb er wieder stehen. Er lauschte erneut. Doch mehr als ein Dröhnen und Pfeifen, das der eigene Blutdruck und der Schuss in seinem Gehör verursacht hatten, konnte er nicht registrieren. Er strebte der offen stehenden Tür zu, deren Öffnung sich vor dem schwachen Umgebungslicht der freien Landschaft abzeichnete. Als er den Ausgang erreichte, um jetzt so schnell wie möglich die alte Halle in diesem abgelegenen Gewerbegebiet von Esslingen zu verlassen, wurde er in seiner Bewegung gestoppt. Festgehalten, als ob ihn jemand gepackt hätte. Augenblicklich überfielen ihn Todesangst, Panik, Entsetzen – denn irgendetwas zerrte an seinem Lederjackett. So heftig, dass er nicht mehr unterscheiden konnte, ob er es mit seinen ungestümen Bewegungen war, der dieses Zerren verursachte, oder ob da jemand nach ihm gefasst hatte. Er versuchte, sich zu befreien, und spürte, dass etwas an seiner Kleidung riss.
     
    Die junge Frau atmete schwer. Sie war in dieser Juninacht mit letzter Kraft in ihre Wohnung geeilt, um ihre Freundin anzurufen. »Sie haben ihn erschossen!«, flüsterte sie, als habe sie Angst, jemand könnte sie belauschen. Doch die 26-jährige Frau war allein. Seit sie nach ihrem Studium nach Esslingen gezogen war, weil sie in einer kleinen Gemeinde der Umgebung einen Job gefunden hatte, lebte sie in einem Apartment in einem dieser anonymen Wohnblöcke. »Sie haben ihn erschossen«, wiederholte sie und kämpfte mit den Tränen. Sie hielt den beigefarbenen Wählscheibenapparat in der Hand und hatte sich auf das Bett gesetzt, obwohl ihre Jeans von den Ereignissen der vergangenen Stunden verschmutzt waren.
    »Was sagst du da – erschossen?«, fragte eine ebenso entsetzte Frauenstimme zurück.
    »Ja, erschossen.« Sie begann, hemmungslos zu schluchzen und legte ihre Brille auf ein Tischchen. »Abgeschlachtet, einfach ermordet.«
    »Wo ist das passiert?«, fragte die Stimme sachlich zurück.
    »Im Lagerhaus«, schluchzte die junge Frau und ließ sich vollends auf das zugedeckte Bett fallen. »Ohne Vorwarnung, einfach geschossen.«
    »Und die anderen?«, kam es emotionslos zurück.
    »Waren im Bunker«, versuchte die junge Frau sich zu fassen. Sie wusste, dass die andere solche Emotionsausbrüche nicht schätzte. Schon gar nicht in kritischen Momenten. »Flippi hat oben Geräusche gehört und
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