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wenn es Zeit ist

wenn es Zeit ist

Titel: wenn es Zeit ist
Autoren: Florian Tietgen
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und bekam von mir eine schallende Ohrfeige.
    »Ich habe nicht gewürgt!«, schrie ich, schubste sie von mir, sodass sie das Gleichgewicht verlor und gegen den vor mir sitzenden Axel taumelte, und lief aus der Klasse.
     
    Es gab einen Park auf der anderen Seite der Alsterkrugchaussee. Hier spielten Hunde, der Rasen wurde gepflegt und in der Mitte gab es einen ausgetretenen Pfad, über den man zum Flughafen gehen konnte. Quer über die Straße lief ich in diesen Park, keuchte atemlos, als ich mich einfach auf die Wiese schmiss und auf dem Bauch liegen blieb. Solange ich auf dem Bauch lag und das Gesicht im Rasen vergrub, konnte niemand meine Tränen sehen. Ich hätte irgendwo hinlaufen können. Aber in diesem Park war ich allein. Normale Mütter kochten gerade das Essen für ihre Kinder. Normale Väter waren bei der Arbeit und freuten sich schon auf den noch entfernten Feierabend. Normale Kinder saßen in der Schule, lernten Rechnen, Englisch, Biologie oder Zeichnen, schrieben Klassenarbeiten, Diktate oder Aufsätze. Nur Idioten wie ich mussten vor ihrer Wut fliehen, vor ihrer verdammten Unfähigkeit, sich zu beherrschen, wenn sie zuschlagen wollten. Normale Kinder stünden gleich in der Pause auf dem Schulhof, die Jungen spielten Fußball, die Mädchen Gummitwist oder Seilspringen.
    Es war immer so, auch, wenn ich zu Hause vor Wut einen Teller auf den Boden schmiss, wenn ich die Tür des Gartenhauses auf und zu schlug, die Nägel aus dem Holz kamen, flossen hinterher die Tränen. Nicht wegen der Prügel, nicht, weil der Hintern schmerzte oder weil ich den Schaden bezahlen müsste, sondern aus Verzweiflung darüber, dass ich war, wie ich war. Immer wieder diese Wut. Immer wieder dieses Verlangen, alles kurz und klein zu schlagen. Warum musste ich so sein?
    Ich hörte nichts und sah nichts. Ich lag nur auf dem Gras, fror leicht und heulte mein Selbstmitleid in den Rasen. Ich konnte sicher sein, man suchte mich höchstens, um mich zu bestrafen. Ich wagte mich nicht in die Klasse zurück. Hatte es schon zur Pause geklingelt? Wie lange lag ich dort?
    Langsam beruhigte sich mein Schmerz, Angst drückte sich in den Vordergrund. Wie sollte ich Frau Junge jemals wieder entgegentreten? Dabei war sie doch bisher immer nett zu mir gewesen, hatte mir einen Apfel gegeben, als sie mich in den Mülleimern nach weggeworfenen Pausenbroten suchen sah.
    Wenn Papa mich versohlte, war hinterher alles gut. Ich schmollte eine Weile in meinem Schlafsack, bis die Einsicht mich erreichte, was ich falsch gemacht hatte. Dann konnte ich mich entschuldigen und wieder mit ihm toben. Aber Papa ha tte ich noch nie geschlagen.
    Würde es bei Frau Junge genauso funktionieren? Müsste ich mich nur bei ihr entschuldigen und sie würde mir verzeihen?
    Zögernd und langsam ging ich zurück zur Schule. Die Reste der Tränen wischte ich mir mit ausgerissenem Gras aus dem Gesicht. Schon von Weitem hörte ich die Schüler, die auf dem Hof lärmten, sah das Gewusel aus Beinen über den rauen Asphalt laufen. Auf einmal war ich froh, so allein zu sein, keine Beachtung zu finden. Ich stellte mir vor, plötzlich im Klassenraum zu stehen, erwartungsvolle Augenpaare auf meinen roten Kopf gerichtet. Welche Entschuldigung würde ich wohl bringen? So konnte ich zunächst einfach zum Lehrerzimmer gehen, zaghaft anklopfen, mit zitternder Hand den Türgriff senken und mit wackeligen Beinen eintreten.
    »Komm rein, Henrik! Möchtest du dich entschuldigen?«
    Heftig nickte ich mit dem Kopf, kaute auf meiner Lippe. Der Direktor hatte die Tür weiter geöffnet, trat zur Seite und schaute zur Referendarin. Der Geruch frischen Kaffees und verbrennenden Tabaks drang in meine Nase. Auf einem Tisch stand eine Schale mit Äpfeln, Bananen, Pfirsichen und Weintrauben. Vor einigen Plätzen lagen Papiertüten mit belegten Broten. Aus meinem Bauch hörte ich ein tiefes und leises Geräusch.
    »Nur Mut«, sagte der Direktor, fasste mir mit beiden Händen von hinten auf die Schultern und schob mich sanft in die Richtung, in der Frau Junge saß. Es war still. Alle Gespräche schienen unterbrochen. Als ich endlich vor der Referendarin stand, wagte ich kaum, sie anzusehen.
    »Schau mich an, wenn du dich entschuldigst! Sonst meinst du es nicht ehrlich«, hallte mir Papas Stimme durch den Kopf.
    Frau Junge wartete, bis ich ihr fest in die Augen sah. Immer noch kaute ich auf der Lippe. Es war schwer, nicht auf den Tisch zu sehen oder das leckere Obst zu ignorieren. Leichter wäre es gewesen,
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