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wenn es Zeit ist

wenn es Zeit ist

Titel: wenn es Zeit ist
Autoren: Florian Tietgen
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Lust sie auf die Ausbildung habe, die sie machen müsse, weil sie mal das Hotel ihrer Eltern übernehmen solle, während ich die Frau auf der anderen Straßenseite winken sehe und durch das Gestrüpp um die Bäume auf dem Bürgersteig den Jungen, der ohne nach rechts zu schauen, einfach los läuft.
    Erst, als Bremsen kreischen und der Körper des Jungen nach dumpfem Aufprall über die Fahrbahn fliegt, kann ich Michi nicht mehr hören. Ich starre nach draußen und bin zu keiner Regung fähig. Nur langsam sickern die Geräusche wieder zu mir durch und ich nehme die Kellnerin wahr, die an unseren Tisch getreten ist, die Teller mit unserem Essen in den Händen hält, aber nicht abstellt. Sie schaut genau so geschockt aus dem Fenster wie Michi und ich.
    »Geh raus!«, schreit Michi mich an. »Halte ihm die Hand, puste ihm über die Knochen. Tu irgendetwas!«
    Ich schiebe die Kellnerin etwas zur Seite, um an ihr vorbeizukommen. Mein Geist folgt mechanisch, aber mein Körper scheint sich ganz normal zu bewegen. Eine Menschentraube hat sich um das Fahrzeug gebildet, beschimpft eine junge Frau, sie sei zu schnell gefahren.
    Der Junge liegt auf dem Asphalt, die Frau, die ihm gewunken hat, kniet bei ihm, weint, streichelt seinen Kopf. Und auf der anderen Fahrspur rauscht der Verkehr vorbei als sei nichts geschehen.
    »Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst erst nach rechts und links schauen, bevor du über die Straße läufst«, schimpft die Frau zwischen ihren Tränen. »Das hast du jetzt davon. Was soll ich denn ohne dich tun?« Aus Sorge hingeschleuderte Wut, aus Liebe erwachsene Beschimpfungen der Hilflosigkeit.
    Ich knie mich zu ihr. Die Augen des Jungen sind geschlossen. Er weint nicht, er schreit nicht vor Schmerzen. Ganz friedlich sieht er aus. Nicht einmal der Schrecken der letzten Sekunden ist ihm anzusehen. Ich halte meine Hand über seinen Mund. Er atmet nicht. Vorsichtig strecke ich den Kopf des Jungen nach hinten, nähere ich mich seinen Lippen, puste hinein. Warum hat die Mutter das nicht längst getan?
    Die Fahrerin wird endlich aus ihrem Auto gelassen oder traut sich durch die Beschimpfungen. Sie steht auf einmal neben mir, fragt, ob sie mir helfen könnte.
    »Haben Sie eine Decke im Wagen?«
    »Ja. Ich hole sie.« Wieder setze ich meine Lippen an den Jungen, beatme ihn gleichmäßig, bis er sich plötzlich aufbäumt, sich spannt wie eine Angelsehne.
    »Ich wusste, du schaffst es«, höre ich Michi hinter mir. In der Ferne nehme ich einen Krankenwagen wahr. Hat irgendjemand einen gerufen?
    »Das hätte jeder geschafft«, antworte ich, ohne mich umzudrehen. Der Junge öffnet die Augen, als gerade ein schwerer Laster auf der anderen Fahrbahn steht, dessen Auspuffgase zu uns herüber ziehen.
    »Oh mein Junge, Gott sei Dank.« Die Mutter des Jungen drängt mich ein kleines Stück zur Seite, küsst ihren Sohn, bedeckt ihn mit ihren Tränen, erdrückt ihn fast mit ihrer Erleichterung.
    Die Frau, vor deren Auto er gelaufen ist, bringt die Decke, legt sie über den Jungen.
    »Danke«, sage ich und lächle sie an. Doch der Blick der Mutter ist hasserfüllt.
    »Er ist einfach losgelaufen …«
    »Später. Das ist jetzt nicht wichtig.«
    Ich schiebe die Mutter wieder ein Stück fort und lege meine Hände auf die Brust des Jungen, spüre die Atmung, die er wieder übernommen hat, fühle seinen Herzschlag.
    »Wie heißt du?«, frage ich ihn. Die Sirenen des Krankenwagens werden lauter.
    Der Junge schaut mich an, sein Gesicht bleibt ganz ruhig, keine Tränen, kein Jammern. »Martin.«
    Menschen stehen um uns herum, reden, diskutieren, schimpfen, aber was sie sagen, bekomme ich nicht mit. Es ist als filtern meine Ohren automatisch, was wichtig ist. Der Laster ist weiter gefahren. Der Verkehr nebenan fließt wieder schneller.
    »Tut dir etwas weh, Martin?«, frage ich und blicke ihm ins Gesicht.
    »Mein Bein.«
    »Sonst nichts?«
    Er schüttelt den Kopf. Wir scheinen in einer Glocke der Stille zu sein, er und ich. Weder die Mutter, die immer noch neben uns kniet noch der Verkehr oder die Menschen greifen ein, berühren uns oder stören unsere Verbindung.
    »Wie viele Finger habe ich hier?«
    »Drei«, antwortet er richtig und grinst ganz leicht dabei, als wollte er mir sagen, ›du hältst mich wohl für blöd.‹
    »Welches Bein tut denn weh, das linke oder das rechte?«
    Der Junge hebt einen Arm und zeigt auf das linke Bein. »Ich weiß doch noch nicht, wo links und rechts ist.«
    »Das macht nichts. Du hast es mir ja
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