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wenn es Zeit ist

wenn es Zeit ist

Titel: wenn es Zeit ist
Autoren: Florian Tietgen
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Von roher Gewalt, vom Kennenlernen und von Verunsicherung (1973)
     
    Kein Pardon. Immer rein in die Fresse und ihm das Knie in den Magen rammen.
    »Hör auf, Michi! Er hat genug.« Hilflos hockte ich auf dem Bürgersteig des Ratsmühlendamm, hörte Autos vorbeifahren, meine Stimme, Michis Stimme.
    »Das Dreckschwein soll sehen, wie es ist«, keuchte sie, während sie weiter auf den Jungen einprügelte. Den Arm drehte sie ihm um, immer weiter, bis die Knochen knackten. Schweiß lief mir herunter. Michi musste doch umkommen in ihrer dicken schwarzen Motorradjacke. Aus den Linden über uns nieselte klebrig süßer Saft. »Vergreifst du dich jemals wieder an Kleineren?«
    »Nein«, winselte der Junge, »ehrlich nicht.«
    »Michi!«, brüllte ich, stand auf, versuchte, sie an der Schulter fortzuziehen aus ihrem Rausch. Sie holte mit dem Ellenbogen aus, schlug ihn mir auf die Nase. Erneutes Knacken, Blut tropfte, ein spitzer Schmerz trieb mir Tränen in die Augen.
    »Nein!«, kreischt e der Junge. »Nein!«
    Unter der Himmels glocke standen die Autoabgase, hing der Geruch von Benzin. Den Geruch von Blut bildete ich mir sicher nur ein. Blut kann man nicht riechen.
    Ein letzter Schrei, ein letztes Wimmern, als sie den Jungen von sich st ieß. »Verpiss dich!«
    Er rast e davon, ohne sich nach seiner Schultasche und seinem Messer zu bücken. Michi hob auf, was er liegen gelassen hatte, pfiff ihm hinterher. Und tatsächlich drehte er sich noch einmal um.
    »Du hast etwas vergessen!« , rief Michi ihm nach, folgte ihm langsam, schmiss das Messer in die Schultasche, die der Junge mit dem rechten Arm entgegen nahm.
    Sein linker Arm h ing herunter, ein Veilchen zierte das rechte Auge, Schürfwunden im Gesicht. Er sah jämmerlich aus, aber auch sanft, gar nicht so, als bedrohte er kleinere Kinder. Sein dunkles Haar war gelockt und die Augen leuchteten braun und warm. An der linken Wange hatte er ein kleines Muttermal.
    Kein Wort des Dankes, nur den Ranzen nehmen und so schnell wie möglich abhauen. Die Frau war lebensgefährlich.
    Ich hock te auf dem Bürgersteig, hielt mir die Nase, hätte schreien können vor Schmerzen.
    »Alles in Ordnung?«, fragt e Michi, als sie sich zu mir umdrehte.
    »Du hast mir die Nase gebrochen!« Schmecken k onnte man das Blut, wenn es einem über die Lippen lief und man es mit der Zunge ableckte.
    »Zeig mal her!«
    Willig ließ ich mir die Hände vom Gesicht ziehen, hielt sie nach unten, während Michi mit ihrem Zeigefinger über das Nasenbein strich. Wieder der spitze Schmerz, wieder die dadurch ausgelösten Tränen. Ganz nah kam sie mir mit ihrem Gesicht, pustete sacht, gab mir einen Kuss, dort wo es geknackt hatte, als sie mit dem Ellenbogen dagegen gestoßen war.
    »Quatsch. Die ist nicht gebrochen.«
    »Ist sie doch.«
    Einfach laufen, die eine Hand vor das Gesicht, in der anderen d as soeben gerettete Portemonnaie, froh, noch im Besitz meiner Schuhe und meiner Jeans zu sein, aber laufen. Kein Dank, nur Erschrecken.
     
    Ab und zu stelle ich es mir so vor. Dabei war es genau anders herum. Michi wurde bedroht und ich habe erbarmungslos zugeschlagen, ihre Nase erwischt und hinterher gepustet, wie es meine Großmutter bei mir immer getan hatte.
    Ich a n Michis Stelle wäre nicht geblieben. Ich wäre geflohen, dankbar für die Hilfe, doch zu entsetzt über die Gewalt
    Nicht so Michi. Sie bedankt e sich und blieb.
    »Machst du das immer so?«, fragt e sie, hielt sich ein Papiertaschentuch vor die Nase und sah mich mit Augen an, die so rund und hell waren wie der Vollmond.
    »Nein.«
    Warum schnappte sie sich nicht die geretteten Sachen und verschwand? Sie stand auf dem Bürgersteig, ich spürte ihren Blick, während ich die Gehwegplatten anstarrte.
    »Aber w enn sich jemand an Schwächeren vergreift, muss er dafür bezahlen.«
    Michi blieb immer noch stehen, antwortete nicht. Was uns verband, stand zwischen uns, tötete die Worte, die sie hätte sagen können. Der Junge, der eben mit geb rochenem Arm davon gelaufen war.
    Ich kannte ihn nicht. Ich schätzte ihn drei Jahre älter als mich. Ich war dreizehn. Er hatte mit einem Messer vor dem Gesicht eines Mädchens gefuchtelt, das ihm zaghaft und ängstlich ihr Portemonnaie in die Hand gedrückt und anschließend den Reißverschluss ihrer Motorradjacke runterzogen hatte.
    Ich ha tte kein Wort gehört, nur etwas gesehen, das gereicht hatte, einzugreifen. »Kennst du den Jungen?«
    Michi nickte. »Er geht auf unsere Schule. Hast du ihn noch nie dort
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