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wenn es Zeit ist

wenn es Zeit ist

Titel: wenn es Zeit ist
Autoren: Florian Tietgen
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gezeigt.«
    Der Krankenwagen scheint jetzt so nah, dass die Mutter des Jungen aufsteht und Ausschau hält, ob sie ihn schon sieht. Michi tritt von hinten an mich heran, legt mir die Hand auf die Schulter. Das spüre ich. Aber mein Blick bleibt ganz bei dem Jungen.
    »Soll ich es mir anschauen?«, frage ich und zeige dabei auf sein Bein. Er nickt. Wäre die Mutter nicht aufgestanden, könnte sie jetzt wenigstens seine Hand halten, während ich das Gesicht des Jungen aus den Augen lasse und vorsichtig das Hosenbein nach oben schiebe. Was möchte ich da überhaupt sehen? Ich kann doch gar nichts erkennen. Nur den schiefen Winkel, in dem das Schienbein steht, eine leichte Erhebung, dort, wo es sich knickt.
    »Tut es dort weh?« Ganz sacht drücke ich auf die Erhebung und schaue dem Jungen wieder ins Gesicht.
    »Ja.« Er verzieht den Mund ein bisschen, beißt aber die Zähne zusammen. Noch immer weint er nicht. Die Mutter reckt sich neben uns, winkt.
    »Entschuldigung«, sage ich zu dem Jungen und nehme seine Hand. »Der Krankenwagen ist gleich da. Soll ich so lange pusten?«
     

Vom Trost der Großmutter (1960 bis 1967)
     
    Ich weiß nicht einmal, wie alt ich damals war, nur, dass wir bei der Großmutter lebten. Mama und Papa teilten sich ein Zimmer, ein kleines mit Fenster zum Erdkampsweg bekam ich und Oma eines nach hinten zu den Gärten.
    Ich habe keine Erinnerung daran, wann Papa begann , uns zu schlagen, aber ich bin sicher, er tat es nie, wenn meine Oma dabei war.
    Denke ich an sie , sehe ich mich meistens auf ihrem Schoß sitzen. Sie hatte stets eine Schürze um, ihr Haar war zu einem Dutt gebunden, und sie roch nach Kartoffeln. War ich traurig, hatte mich gestoßen oder mir beim Sturz mit dem Roller eine Schürfwunde zugezogen, strich mir durchs Haar, tröstete mich und fragte: »Soll ich pusten?«
    N ickte ich – und das tat ich jedes Mal - blies sie mir ganz vorsichtig ihren Atem auf die Beule, die aufgescheuerte Stelle oder die Augen, damit ich den Schmerz nicht mehr spürte und die Tränen nachließen.
    So pustete meine Oma mir die dunklen Wolken aus meinem jungen Leben, zart und mitfühlend, als wüsste sie immer genau, wo mein Kummer lag.
     

Vom Trost aus Hilflosigkeit (1976)
     
    Martin nickt.
    »Gut«, sage ich. »Ich setze mich zu deinen Füßen, damit du sehen kannst, was ich mache.« Wieder nickt der Junge, während Michi meine Schulter loslässt. Ich wechsle den Platz, schaue in Martins Augen, lächle ihn an und beuge mich über die Erhebung an seinem Schienbein. »Keine Angst«, versuche ich, ihn zu beruhigen, »es tut nicht weh. Ich fasse es nicht mehr an.« Ganz leicht blase ich über die Stelle, puste. Ich höre ein Auto bremsen und Türen, die zugeschlagen werden. Ich spüre, die Menschen treten zur Seite. Eine Trage wird neben dem Jungen abgesetzt. Ich nehme alles und nichts wahr, so über Martins Bein gebeugt. Ich fühle mich einfach nicht angesprochen, als eine herrische Männerstimme fragt: »Was zur Hölle machen Sie denn da?« Erst als Michi mir in die Schultern kneift, blicke ich auf. »Ich puste nur, um den Jungen zu beruhigen.«
    Der Mann, in dessen Gesicht ich schaue, schüttelt den Kopf. »Okay, okay. Jetzt sind wir ja da.« Er schubst mich zur Seite , wechselt einen kurzen Blick mit seinem Kollegen, bevor sie Martin auf eine Trage verfrachteten.
    »Lass uns gehen«, sagt Michi.
    »So ein Bekloppter«, murmelt der Sanitäter zu seinem Kollegen, schüttelt wieder den Kopf und imitiert mich: »Ich puste.«
    Der Kollege lacht. Ich balle meine Hände. Läge Martin nicht auf der Trage, spränge ich den Typen von hinten an und schlüge ihm die Faust ins dreckige Lachen. Was bildet der sich ein?
    »Lass uns gehen«, sagt Michi erneut und zerrt mich am Arm durch die Zuschauer. Ich habe die Polizei nicht bemerkt, die inzwischen gekommen ist. Erst jetzt sehe ich die Beamten, von schimpfenden Augenzeugen umringt, die alle dasselbe sagen: »Die ist doch viel zu schnell gefahren. – Wie kann man nur so rasen? – Unverantwortlich so was. – Der sollten sie den Führerschein für immer wegnehmen.«
    »Das ist doch gar nicht wahr!«, brülle ich dazwischen. »Der Junge ist einfach über die Straße gerannt!« Michi reißt mich weiter. Einer der Polizisten kommt hinter uns her, fragt, was ich gesehen hätte und nach meinem Namen.
    Im ›Restaurant stehen kalter Kaffee, kalter Leberkäse und kaltes Rührei, als wir uns wieder setzen. Ich zünde mir eine Zigarette an, Michi stochert lustlos in
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