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wenn es Zeit ist

wenn es Zeit ist

Titel: wenn es Zeit ist
Autoren: Florian Tietgen
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ihrem Essen.
    Die Kellnerin kommt an den Tisch und bittet: »Warten Sie. Ich lasse es Ihnen noch einmal neu machen.«
    Vor dem Fenster löst sich die Menschenmenge gerade auf. Der Krankenwagen ist davon gefahren, der letzte Polizist hat sich in den Wagen gesetzt, der Alltag greift wieder um sich. In zehn Minuten wird nichts mehr an den Unfall erinnern.
     

Von ernsten Worten (1973)
     
    Gleich in der zweiten Stunde wurde ich zum Direktor bestellt. Und irgendwie nahm ich das mit großer Gelassenheit zur Kenntnis. Ich dachte weder daran, was Mama sagen würde noch darüber nach, wie es überhaupt weitergehen sollte. Mein Herz klopfte nicht schneller, als ich an die offene Tür des Direktorats klopfte und Frau Stahnke, die Sekretärin sagte, Herr Blatz wartete schon.
    »Komm rein!« Er blieb sitzen, schaute mich nicht unfreundlich an, sondern wartete, bis ich mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch gesetzt hatte. Nichts lag hier einfach herum, kein Zettel lose auf dem Pult, kein Buch, in dem er vielleicht etwas nachschlagen m üsste. Alle Stifte waren säuberlich in einem schwarzen Behältnis, das auch eine Schere, einen Zirkel und ein Lineal enthielt. »Du weißt, warum du hier bist?«
    »Ich kann es mir denken.« Ich sah ihm direkt in die Augen. › Wenn du es ehrlich meinst, schau mich an.‹
    Es tat mir leid, aber ich konnte nicht reumütig auf den Boden schauen und eine Entschuldigung stammeln. Herr Blatz hielt meinem Blick stand, kratzte sich am Kinn und schüttelte den Kopf bedächtig. Er verstand es, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Erst diese Haltung ließ mein Herz in die Hose sinken.
    »Es sind schon ein paar Jahre vergangen, seit du Frau Junge geohrfeigt und Jochen krankenhausreif geprügelt hast. Aber wir haben dir damals deutlich gesagt, so etwas dürfte nicht wieder vorkommen.«
     

Von Spinat und vom Hunger (1970)
     
    In Deutschland herrschte Entspannungspolitik und wurde Demokratie gewagt. Das Demonstrationsrecht wurde liberalisiert und Andreas Baader mit einer Gewalttat aus dem Gefängnis befreit. Die RAF wurde geboren und der Warschauer Vertrag unterzeichnet.
    I ch war zehn Jahre alt und gerade auf die Realschule gekommen, versuchte mich zwischen den wenigen bekannten und den vielen unbekannten Mitschülern zu orientieren, als die Beherrschung mich das erste Mal in der Schule verließ.
    Es ging um Spinat. Frau Junge hatte das Pech, als Referendarin eine fünfte Klasse in Englisch unterrichten zu müssen, lauter Rabauken, die sich die Zeit im Unterricht da mit vertrieben, aus Pusterohren nass gekaute Papierschnipsel an die Tafel zu schießen. Fast jeder von uns hatte zu diesem Zweck einen alten Filzstift auseinander gebaut. Unsere Zungen waren bunt von der Farbe der Minen, die Notizblöcke wiesen angerissene Seiten auf, die wie Kaugummi in unseren Mund bearbeitet wurden. Und irgendwie schaffte es Frau Junge doch, ab und zu eine Vokabel an die Tafel zu schreiben, die von unseren Augen und Ohren wahrgenommen wurde.
    Eine dieser Vokabeln war › spinach‹, das englische Wort für Spinat. Es stand in einem Übungstext, dessen neue Wörter von ihr auf Zuruf durch die Streber der Klasse aufgeschrieben wurden. ›Susan likes spinach, Peter doesn´t like spinach.‹
    »Hat jemand von euch eine Vorstellung, was das bedeutet?« Frau Junge hatte das Wort geschrieben – unbeirrt von den schleimigen Papierkugeln an der Tafel - sich zu uns umgedreht und ihre langen roten Haare hinter das Ohr gestrichen. Sie hatte es sogar geschafft, wacker gegen den Lärm in der Klasse anzulächeln.
    Niemand antwortete. Dass es trotzdem eine Vorstellung über die Bedeutung gegeben haben musste, zeigten Laute, wie »iiiihhh« und »bäääähhh«.
    Ich mochte Spinat. In unserem Gartenhaus konnte Mama leider nie welchen kochen. Immer mussten wir essen, was auf ihren Beeten wuchs.
    Schon deshalb habe ich mich nicht an den Ekelbekundungen beteiligt. Aber ich war erkältet und musste husten, hielt mir die Hand vor den Mund und versuchte ein bisschen, den Reiz in der Luftröhre zu unterdrücken. Papa konnte es nie leiden, wenn ich ›bellte wie ein Hund‹ .
    Frau Junge sah die künstlich würgende Klasse, mein angestrengt rotes Gesicht, die eine Hand vor dem Mund, die andere auf der Brust, hörte die Geräusche der Schüler und meinen Husten. Sie schoss auf mich zu, packte mich am Hals, brüllte: »Was fällt dir ein, so zu würgen, dass du davon husten musst? Es ist Nahrung. Andere Kinder würden sich darüber freuen!«,
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