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Der Mann aus dem Safe

Der Mann aus dem Safe

Titel: Der Mann aus dem Safe
Autoren: Steve Hamilton
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    Kapitel eins
    Wieder ein Tag hinter Schloss und Riegel
    S ie erinnern sich vielleicht an mich. Überlegen Sie – Sommer 1990 . Ich weiß, das ist schon eine Weile her, aber die Presseagenturen haben die Story damals verbreitet, und ich war in jeder Zeitung des Landes. Selbst wenn Sie nichts darüber gelesen haben, haben Sie wahrscheinlich von mir gehört. Von einem Nachbarn, Arbeitskollegen oder, falls Sie jünger sind, in der Schule. Man nannte mich den »Wunderjungen«. Es gab auch noch ein paar andere Bezeichnungen, erfunden von Redakteuren und Nachrichtensprechern, die sich gegenseitig übertreffen wollten. In einem der alten Zeitungsausschnitte habe ich »Wunderknabe« gelesen. »Teufelskerl« lautete eine weitere, obwohl ich damals erst acht Jahre alt war. Doch es war der Wunderjunge, der an mir hängenblieb.
    Ich machte zwei oder drei Tage lang Schlagzeilen, und auch als die Kameras und Reporter sich auf etwas anderes stürzten, wirkte meine Geschichte noch nach wie nur wenige. Ich tat den Leuten leid. Wie könnte es anders sein? Wenn Sie kleine Kinder hatten zu der Zeit, passten Sie noch ein bisschen besser auf sie auf. Wenn Sie selbst noch ein Kind waren, schliefen Sie eine Woche lang schlecht.
    Letztendlich konnten Sie nichts anderes tun, als mir alles Gute zu wünschen. Sie hofften, dass ich irgendwo untergekommen war und nun ein besseres Leben hatte. Sie hofften, dass mein zartes Alter mich irgendwie geschützt hatte, dass es deshalb nicht ganz so entsetzlich für mich gewesen war. Dass ich darüber hinwegkommen würde, es vielleicht sogar hinter mir lassen konnte, weil Kinder doch so anpassungsfähig und flexibel und belastbar sind. Diesen ganzen Horror. Das hofften Sie zumindest, falls Sie sich die Zeit nahmen, über mich als Menschen aus Fleisch und Blut nachzudenken, statt in mir nur das junge Gesicht in den Nachrichten zu sehen.
    Die Leute schickten mir Karten und Briefe damals. Manche mit Kinderzeichnungen dabei. Wünschten mir Glück. Eine bessere Zukunft. Manche wollten mich sogar in meinem neuen Zuhause besuchen. Offenbar waren sie mit der Vorstellung nach Milford, Michigan, gefahren, sie könnten einfach jemanden auf der Straße anhalten und nach mir fragen. Aber warum eigentlich? Sie dachten wohl, ich müsse über irgendwelche besonderen Kräfte verfügen, um diesen Tag im Juni überlebt zu haben. Was das für Kräfte sein sollten oder was diese Menschen sich von mir erhofften, ist mir völlig schleierhaft.
    Was ist in den Jahren seitdem passiert? Ich bin herangewachsen. Ich glaube nun an Liebe auf den ersten Blick. Ich habe dies und das ausprobiert, und wenn ich irgendwo etwas taugte, dann war es entweder etwas vollkommen Nutzloses oder etwas total Ungesetzliches. Das sagt schon mal einiges darüber, weshalb ich diesen schicken orangenen Overall trage und ihn während der vergangenen neun Jahre tagein, tagaus getragen habe.
    Ich denke nicht, dass es mich besser macht, hier drin zu sein. Oder überhaupt jemanden. Es ist allerdings schon irgendwie ironisch, dass das Schlimmste, was ich je getan habe, zumindest auf dem Papier, das Einzige ist, was ich nicht bereue. Kein bisschen.
    Inzwischen habe ich mir gedacht, was soll’s, da ich nun mal hier sitze, nutze ich die Zeit und blicke auf alles zurück. Ich schreibe es auf. Was im Übrigen, falls ich es wirklich tue, für mich die einzige Möglichkeit ist, die Geschichte zu erzählen. Ich habe keine andere Wahl, denn wie Sie vielleicht wissen, habe ich bei alle dem, was ich in den vergangenen Jahren so gemacht habe,
eines
nicht gemacht. Ich habe kein einziges Wort gesprochen.
    Das ist natürlich eine Geschichte für sich. Diese
Sache,
die mich zum Verstummen gebracht hat, so viele Jahre lang. Eingeschlossen in mich selbst, seit jenem Tag. Ich kann sie nicht loslassen. Deshalb kann ich nicht sprechen. Ich bringe keinen Ton hervor.
    Hier jedoch, auf dem Papier … da kann ich so tun, als würden wir zusammen irgendwo an einer Bar sitzen, nur Sie und ich, und uns ausführlich unterhalten. Hey, das gefällt mir. Wir beide an der Bar, wie wir einfach nur reden. Beziehungsweise ich rede, und Sie hören zu – was für ein Rollentausch das wäre. Ich meine, Sie würden mir wirklich
zuhören.
Mir ist nämlich aufgefallen, dass die meisten Menschen nicht zuhören können. Glauben Sie mir. Meistens warten sie bloß darauf, dass der andere endlich die Klappe hält, damit sie wieder dran sind. Aber Sie … na klar, Sie sind ein ebenso guter
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