Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
wenn es Zeit ist

wenn es Zeit ist

Titel: wenn es Zeit ist
Autoren: Florian Tietgen
Vom Netzwerk:
früher? Hat er sich mit jedem Schlag in mein Gesicht oder auf meinen Hintern an seiner Mutter gerächt?
    »Hm.« Was soll ich ihm antworten? Dass ich mich an die Geschichten aus der Bibel erinnere, an die Kräuter und die Besucher, die sie in ihrem Zimmer empfing? Oder soll ich ihm von der Kiste erzählen, die sie mir vor dem Tod vermacht hat, von dem Brief und der Prophezeiung? Dann müsste ich ihm auch von Jan erzählen.
    »Geh jetzt!« Es klingt nicht mehr so schroff, wie seine Begrüßung. Eher melancholisch. Seine Farben sind immer noch schmutzig. Aber es gibt ein paar hellere Flecken darin. »Und besuch mich nicht wieder. Schließ mit mir ab. Es war gut, vor mir zu fliehen. Irgendwann hätte ich euch tot geprügelt.«
    › Und Jörg? Hast du den auch totgeprügelt, wie in meinem Traum?‹
    Er will gerade aufstehen, aber ich habe das Gefühl, so nicht abschließen zu können. Und etwas sagt mir, er will nicht wirklich, dass ich gehe. Ich sitze ihm gegenüber mit einer Mischung aus Mitleid, Liebe und Verachtung. Mir fällt ein, wie wild wir manchmal getobt haben, wie gerne er mit mir im Garten Fußball gespielt hat, auch, wenn ich es nicht leiden konnte. Es gab doch auch schöne Momente mit ihm.
    »Hast du Mama eigentlich geliebt?«
    »Nein. Und du wärest kein Grund gewesen, sie zu heiraten, hätte deine fromme Großmutter mich nicht gezwungen.« Der Ton wird wieder ruppiger, das Gesicht härter und die lichten Flecken in seinen Farben wieder dunkler.
    »Und mich?«
    Er schweigt, reibt sich das Kinn, als ob er nachdenkt.
    »Nein.«
    »Wenn du es ernst meinst, sieh mich an, während du das sagst.«
    Immer noch reibt er sich das Kinn. »Wenigstens das habe ich dir mitgegeben.« Er legt beide Hände auf den Tisch und sieht mir in die Augen. »Nein.« Seine Unterlippe zittert ein bisschen bei dem Wort. »Manchmal«, gibt er zu. »Du warst viel zu zimperlich, nie so, wie ich mir einen Sohn gewünscht hätte.« Bestimmt will er mich nur verletzen, damit ich nicht wiederkomme. Aber er sieht mich an. Er sieht mir direkt in die Augen.
    Jetzt stehe ich auf. Wenn er mich kränken wollte, hat er es erreicht. Ich bin nicht einmal wütend, jedenfalls nicht so, wie ich es kenne. Ich habe keine Lust, ihm seine Fresse zu polieren. Eher fühle ich mich traurig. Und diese Trauer gilt auch ihm und dem Leben, das ihm aufgezwungen w urde.
    »Erinnerst du dich an den Jungen, der morgens immer im Schwimmbad war?« Alles oder nichts. Jetzt kann ich ihn auch noch mehr herausfordern.
    »Den Bastard, den du immer so angeglotzt hast? Den Dreck, den sie irgendwann aus der Alster fischen mussten?« Seine Augen blitzen kalt, seine Stimme wird eisig und sein Mund verzieht sich zu einem widerlichen breiten Grinsen. Er mustert mich, sieht mir starr ins Gesicht und achtet auf jedes kleine Zucken meiner Muskeln. Dieses Grinsen lässt ihn wachsen. Ich spanne die Muskeln an, balle die Fäuste. Wie kann er ...? »Mann, hast du damals wegen dieses Pissers geflennt.«
    Das ist zu viel. Jörgs Tod ist doch keine Anekdote aus einem glücklichen Leben.
    »Ich habe dich damals angelogen.« Von oben he rab schaue ich in seine Augen und werfe ihm die Worte wie einen Stein aus meiner Schleuder an den Kopf. »Als du gefragt hast, ob ich pervers bin.«
    Was erwarte ich? Soll er auf mich losgehen und mich wieder verprügeln? Soll er mir irgendeine grobe Antwort gehen, an der ich erkenne, was mit Jörg damals geschehen ist?
    »Geh!«
    Jetzt meint er es ernst. Ich schaue mich noch einmal um, während mich ein Beamter zum Ausgang bringt.
     
    Wieder draußen blendet mich die Sonne und die Hitze erschlägt mich. Es sind nur fünfundzwanzig Grad, aber ich fühle mich, als wäre ich in der Wüste. Mir ist etwas schwindelig. Langsam gehe ich zur Alsterbrücke, sehe Michi unten auf der Wiese liegen und kämpfe mich schwitzend die Stufen zu ihr hinab.
    Sie liegt auf dem Bauch. Erst als sie in meinem Schatten ist, bemerkt sie mich, dreht sich um und fragt: »Wie war es?«
    Es ist, als hätte ich nur ein Buch gelesen. Alles wirkt auf mich, als wäre es gar nicht passiert. So geht es mir auch mit ihrer Frage.
    »Es war in Ordnung.«
    »In Ordnung?«
    » Ich soll ihn nicht noch einmal besuchen«, erkläre ich ihr, als ich mich zu ihr setze. »Er kann mir nichts erzählen, was mir hilft. Für meine Oma hat er nur Verachtung übrig, meine Mutter und mich hat er nie geliebt.«
    »Und du sagst, es war in Ordnung?« Sie richtet sich auf, stützt sich mit den Händen ab und schaut
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher