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wenn es Zeit ist

wenn es Zeit ist

Titel: wenn es Zeit ist
Autoren: Florian Tietgen
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und den Abenden mit Büchern und Hausaufgaben. Mein Vater findet nicht statt. Nicht einmal als abgestorbenes Ende eines Nervenstrangs, nicht als verwesender Fleck auf meiner Seele.
    Vor dem Einschlafen überlasse ich mich gern meinen schönen Träumen, liege nackt unter Gottes Anblick, wie Jan vor mir gelegen hat. Mit aufgeklappter Decke und einer Pfütze auf dem Bauch.
    Nur muss ich nicht fürchten, meine Mutter käme herein, ohne anzuklopfen.
    Das Fenster ist leicht geöffnet , ein kleiner Haken sorgt dafür, dass es nicht auf- oder zugeschlagen wird. So kommt genug Luft herein.
    Es ist ein bedeckter etwas windiger Tag, dieser 31. August, 1976. Zum Abend hin ist die Brise etwas aufgefrischt. Deshalb wundert mich an seinem Haken klappernde Fenster nicht leicht klappert und es stört mich nicht in meiner Fantasie. Geräusche, die man kennt, sind nicht bedrohlich.
    Ich greife gerade nach dem Paket Taschentücher, das neben meinen Kopfkissen liegt, als ein Ruck die Scheiben leicht vibrieren lässt, eine Bö durch den Spalt des Fensters über meinen Schreibtisch bläst und ein Blatt Papier auf den Teppich weht. Ich halte in meiner Bewegung inne, die Decke immer noch umgeklappt und sehe zum Fenster. Mit offenem Mund schaue ich auf den blauen Schatten, der zu mir schwebt, sich auf mein Bett setzt und sich zu meinem Kopf beugt. Silbrigblau schimmernder Nieselregen durchsetzt mit kleinen, leuchtend orangefarbenen Punkten. Ich spüre Druck auf der Brust, es ist, als ob mich jemand am Kragen packt, obwohl ich nichts anhabe. Meine Lippen kribbeln wie bei einem Kuss, mein Herz klopft, als sähe ich in eine geladene Pistole und meine Atmung setzt für einen kurzen Moment aus.
    ›Jan‹ , schießt es mir durch den Kopf. ›Ein Windzug vielleicht, aber plötzlich steht der Nieselregen neben mir.‹
    Aber dieser Nieselregen ist nicht grau. Er hat noch seine Farbe.
    »Jan?«, frage ich in die stille Leere meines Zimmers. »Bist du das?«
    Der Druck auf meiner Brust erhöht sich. Der Schatten verliert seinen silbrigen Glanz, die orangefarbenen Punkte werden weniger.
    »Jan?« Ich greife in den Nieselregen. Die Farbe rotiert in einem schwachen violetten Strudel. Es ist noch Leben darin. Jörgs Niesel war grau, leblos, also …
    Ich schaue auf die Uhr. Halb eins. Egal. Ich mache Licht, sehe den Schatten aufblitzen, aber er bleibt blau . Ich suche in meinem Ranzen nach unserer Klassenliste. Irgendwo darauf finde ich die Nummer, laufe damit zum Telefon, lasse es einmal klingeln, zweimal … - endlich.
    »Dirk Lorenz.« Etwas Erleichterung , Jans Bruder zu hören, nicht seine Eltern.
    »Dirk, hier ist Henrik«, hasple ich ins Telefon. »Stell jetzt keine Fragen, sondern sieh in Jans Zimmer.«
    »Bist du verrückt, hier so spät anzurufen?«
    »Dirk, bitte. Es ist wichtig.« Könnte ich doch bloß vom Telefon aus in mein Zimmer schauen, ob der Schatten noch da ist und ob er noch seine Farbe hat.
    »Okay, weil du es bist.« Er spricht wacher und unruhiger. Ich höre entfernt eine Männerstimme, die fragt: »Was ist denn los?« Eine Tür wird aufgerissen. Bei uns tappst meine Mama sich müde aus ihrem Zimmer und sieht mich fragend an.
    Ich halte die Hand vor die Sprechmuschel und sage: »Gleich, Mama.«
    Schritte. Die Männerstimme. »Hallo, wer ist denn da?« Bevor ich antworten kann, höre ich ein Klacken, dann wieder die Stimme von Dirk. »Der schläft den Schlaf der Gerechten.«
    »Dirk!« Meine Stimme überschlägt sich. »Ihr alle seid wach und er schläft immer noch? Rüttle an ihm, mach Licht in seinem Zimmer, schau auf seinem Schreibtisch.«
    »Woher weißt du …«
    »Jan!« Ein Schrei im Hintergrund. Seine Mutter. »Hans komm schnell!« Schritte, Rufe.
    Meine Mutter steht noch immer neben mir, gähnt, reibt sich die Augen.
    »Er lebt noch«, sage ich atemlos ins Telefon. »Ruft den Krankenwagen!« Dann lege ich auf.
    »Was ist los?«, fragt meine Mutter. Erst jetzt bemerke ich, dass ich mir nichts angezogen habe, bevor ich aus dem Zimmer stürzte.
    »Mein Freund«, antworte ich und laufe an ihr vorbei. »Irgendetwas ist passiert.« Sie folgt mir, steht an der Tür, als ich in meine alten Klamotten hetze. »Ich habe es an dem Schatten gesehen, der in mein Zimmer kam. Es war wie damals bei Jörg.« Angezogen laufe ich wieder an ihr vorbei, schaue nicht einmal, ob der Schatten noch da ist. »Ich muss weg. Leg dich wieder schlafen.« Ich werfe ihr einen Handkuss zu und laufe das Treppenhaus hinunter und über die Fuhlsbütteler
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