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wenn es Zeit ist

wenn es Zeit ist

Titel: wenn es Zeit ist
Autoren: Florian Tietgen
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rücken und die Farben um die Menschen wenige r bedrohlich erscheinen lassen.
    »Weißt du, dass David auch schwul war?«
    »Wer ist David?«
    Sie lässt meine Hand los, bleibt stehen und sieht mich an.
    »Ich habe mit unserem Pastor gesprochen. Und der hat mir von David und Jonathan erzählt.
    » König David? Kam es nicht zur Heuschreckenplage, weil er einen Soldaten an die Front schickte, dessen Frau er begehrte?«
    »Du kannst mir gern mal etwas glauben«, sagt sie. »Auch, wenn ich nicht aufs Gymnasium gehe. Der Pastor sagt, sie waren Freunde, küssten sich und in der Bibel steht, David gefiele die Liebe besser als Frauenliebe. Wenn du willst, zeige ich dir die Stellen. Der Pastor hat sie mir aufgeschrieben.« [3]
    »Ich glaube dir auch so.« Langsam ergreife ich ihre Hand wieder, wir schlendern weiter in der milden Sommerluft und kaufen uns bei einem Eiswagen jeder ein Eis.
    »Warum redest du mit einem Pastor darüber?«
    »Vielleicht kannst du Jan damit überzeugen, wenn du es ihm erzählst?« Sie leckt an ihrem Eis und ein bisschen von der Creme läuft ihren Mundwinkel herunter.
    »Vielleicht«, sage ich. Doch ich fürchte, er wird nicht aus seiner Haut können. Ich schweige. Das Thema ist mir unangenehm. Ich bin doch gerade zufrieden. Jenseits unserer Wünsche sind Jan und ich wieder befreundet, als wäre nie etwas geschehen. So ist es doch am Besten.
     

Von Wiederholungen und zweiten Chancen (1976)
     
    Es sind fast zwei Wochen vergangen, seit ich bei meinem Vater war. Herr Siebert hat sich gemeldet und mir erklärt, was er schon in unserem letzten Gespräch befürchtet hatte. An Jörg hatte man keine Spuren finden können, an denen nach so langer Zeit noch ein Täter zu überführen gewesen wäre.
    Ich habe beschlossen, mich nicht weiter damit zu belasten. Es war nur ein blöder Traum. Seit ich meinen Vater im Gefängnis besucht hatte, waren die Bilder und Stimmen, die Träume nicht wiedergekehrt.
    »Aber dein Vater hat gestanden.«
    Die Routine hat te mein Leben doch gerade wieder.
    »Einer der Ermittler erinnerte sich an dich, weil du einfach alle Absperrungen ignoriert hattest.«
    Will ich das hören? Es war doch nur eine blöde Idee, die mir einen halben Tag lang real erschienen war.
    »Es reichte eine kleine Andeutung meinerseits, wessen Kind damals die Böschung hinuntergelaufen war, um deinen Vater zu vernehmen.«
    »Hören Sie auf. Bitte.«
    »Wie du willst.«
    Wir schweigen beide, aber keiner legt auf. Ich nicht, weil ich mich wie gelähmt fühle. Warum der Journalist in der Leitung bleibt, kann ich nur raten.
    »Ist alles in Ordnung?«
    Ich nicke, obwohl er das gar nicht hören kann. »Er war es gar nicht. Bestimmt hat er den Polizisten während seines Geständnisses nicht ins Gesicht geschaut. Ganz sicher wollte er mir nur wehtun.«
    Erneutes Schweigen. Erst nach quälend langen Minuten antwortet Herr Siebert: »Ob er die Beamten angeschaut hat, weiß ich nicht mein Junge. Aber er konnte das Geschehen von damals zu genau beschreiben. Ich erspare dir die Details. Wenn du sie wissen willst, du …«
    »Danke.« Wofür bedanke ich mich? Nach meinem Besuch im Gefängnis war ich traurig, aber auch ruhig. Ich hatte Gewissheit. Sie gefiel mir zwar nicht, aber sie ließ sich nicht ändern. Ich hatte nichts erfahren, was ich nicht schon wusste, ich hatte es nur bestätigt bekommen. Was ist jetzt anders? Auch diese Wahrheit habe ich doch geahnt. Doch mir ist zum Heulen.
    »Nichts zu danken. Ich rufe vor allem an, um dich vorzubereiten. Ein nach sechs Jahren erst aufgeklärter Mord lässt sich vor der Presse nicht verheimlichen.«
    Erneut nicke ich nur, erneut schweigen der Journalist und ich. Doch dieses Mal legt er nach kurzer Zeit auf.
    Die Trauer bleibt bestimmende Farbe in den nächsten Tagen, aber die Fotos von meinem Vater in den Zeitungen erscheinen mir wie die Bilder von Fremden, fern wie die Gesichter auf den Fahndungsplakaten der RAF.
    Anders als während der Berichte über mich habe ich jetzt auch keine Angst, jemand könnte mich damit provozieren. In der Schule weiß niemand, wer mein Vater ist. Nicht einmal Michi fällt darüber in helle Aufregung. Vielleicht, weil ich ihr dieses Mal vorher über die Berichte erzählt habe.
    Ich weiß nicht, ob es anderen auch so geht. Aber mich hüllt die Gewissheit, die ich befürchtet habe, nach der ersten Ablehnung in eine schützende Glocke.
    D er Alltag besteht aus Schlafen, Schule mit Jan, den Nachmittagen mit Michi, den Zigaretten mit meiner Mutter
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