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Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer
Autoren: Burkhard Driest
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1. KAPITEL
    D
    as Morgenlicht fiel bereits durch die Jalousie, als ich die Augen einen kleinen Spalt öffnete. Ich lag auf der Seite, hatte die Beine angezogen und die rechte Hand unter dem Kissen. Es war der 28. April 1944.
    Immer wieder erinnere ich mich an dieses Datum, an dieses quälende Erwachen. Es war an meinem fünften Geburtstag.
    Mein Leben lang habe ich nicht begriffen, was wissenschaftlich längst erwiesen ist, nämlich dass die Dinge, wie ich sie sehe und erlebe, in meinem Kopf entstehen. Eine wunderbare oder grausige Welt, doch sie ist nirgendwo anders zu finden als in meinem Bewusstsein – einem Panoramakino großer und kleiner Szenarien.
    Im Grunde ist das für mich kein Problem, aber im Trubel des Alltags verfalle ich vollkommen der Illusion, dass alles so ist, wie ich es wahrnehme. Wenn ich eifersüchtig bin, habe ich keinen Zweifel daran, dass die Geliebte mich betrügt. Dazu brauche ich nicht anwesend zu sein, brauche keine Beweise oder Zeugen. Ich weiß, was sie tut, wie sie zu Werke geht, warum sie es tut und wie sie dabei empfindet. Es ist mein Instinkt oder mein siebter Sinn, auf den ich mich verlassen kann. Ich kenne das Dasein, weil ich so sehr ein Teil von ihm bin, mir entgeht nichts. Mit allen Tentakeln meiner Lebensgier und Lebensangst bin ich meinem Leben verhaftet, und so sehr ich mich auch bemühe, es als die Projektion meiner Wünsche und Ängste zu begreifen, mein Bemühen ist vergeblich. Mein Schicksal kommt von außen, es fügt sich mir zu, und wenn meine Eltern mich in dieser unvergesslichen Nacht, von der ich eben sprach, für Stunden in ein dunkles Zimmer sperrten und mich dort schreien ließen, während sie sich ihrer leidenschaftlichen Liebe hingaben, erlebte ich meine Regungen als Gespenster einer schrecklichen Außenwelt.
    Ich sah nicht mein tobendes Chaos von Eifersucht und Angst, sondern ich hatte ganz reale Katastrophen vor Augen. Wände, die mich schützen sollten, zerbrachen. Tapeten lösten sich auf oder begannen, sich in unheimlichen Bewegungen zu wellen, aus den Dielen oder den Falten des Vorhangs züngelten Flammen, die mich verbrennen würden. Doch statt wegzulaufen war ich starr vor Angst und erwartete das Unfassbare. Aus den Bäumen vor meinen Fenstern glotzten Schattengeister in mein Zimmer, deren Absichten unerfindlich waren. Ich dachte nicht daran, wie meine Mutter in den Armen meines Vaters lag, ich wusste nur, dass sie hier zu sein hatte, um mir beizustehen, mich zu schützen und zu beruhigen, damit ich aufhörte zu zittern.
    Ich weinte, bis meine Augäpfel in der eisigen Nachtluft zu Kristallkugeln gefroren. Während sich alles um mich herum bewegte – die Wolken am finsteren Himmel, die Blätter der Bäume, die Katzen im Hof, die Fledermäuse, das sich liebende Elternpaar –, lag ich wie zu einer Salzsäule erstarrt in meinem Bett und schrie ohne Ton. All dies spielte sich nicht nur einmal ab, doch ich erinnere mich an dieses eine Mal, weil es die Nacht vor meinem fünften Geburtstag war.
    Mein Vater, damals in Dresden stationiert, hatte seinen Besuch angekündigt, und meine Mutter blies das Ganze zu einem wundervollen Ereignis auf, das es für sie sicherlich auch war. Ich erwartete natürlich nicht nur ein Geschenk, irgendetwas im Erzgebirge extra für mich Hergestelltes, vielleicht eine neue elektrische Eisenbahn, sondern auch einen Tag, an dem sich meine Umgebung bemühen würde, mir das Gefühl zu geben, ein besonderes Wesen zu sein.
    Ich wollte wenigstens an diesem Tag meiner Mutter, die ohne Mühe und Anstrengung von morgens bis abends ein einzigartiges Wesen war, ähnlich sein. Nie fiel irgendein Schatten auf ihre Einzigartigkeit, weder auf ihre Schönheit noch auf ihre Magie. Sie hätte es als göttliche Verzauberin auch kaum zugelassen, denn sie schien niemals zu vergessen, dass alle gefühlsbetonten Bindungen ausschließlich auf dem Wechselspiel von Verführung beruhten. Sie wies mich nicht nur darauf hin, dass ich in zwei Tagen Geburtstag hatte, dass mein Vater extra anreisen würde, um mir zu gratulieren und mir etwas Schönes zu schenken, sondern sie verführte mich zu der Erwartung, dass dieses Fest die Feier meiner Einzigartigkeit sein werde.
    Berauscht und voller Ungeduld erwartete ich nun diesen Tag, der mit der Ankunft meines Vaters seinen Anfang nehmen sollte.
    »Niemand ist morgen wichtig, nur du!« Meine Mutter sang es fast und ging mit mir in die Stadt, während meine dreijährige Schwester an Tante Kläre übergeben wurde.
    In
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