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Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer
Autoren: Burkhard Driest
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trippelte hinterher, aber in der kleinen Bahnhofshalle holte ich auf, nahm ihre freie Hand und hielt sie ganz fest. Sie erwiderte den Druck, und damit war das Band, das nur uns beide einte, wieder hergestellt. Diese Verbindung war für mich stets wichtig, denn wenn sich etwas zwischen uns stellte, wurde ich sofort unruhig, gereizt oder sogar aggressiv. Darunter hatte dann besonders meine Schwester zu leiden.
    Ich sorgte dafür, dass Unterbrechungen oder gar Abbrüche in der Beziehung zu meiner Mutter so selten wie möglich vorkamen, bestenfalls wenn sie auf die Toilette musste, wo ich nicht mit durfte. So war meine Erinnerung, später aber fand ich heraus, dass sie sehr geschickt und kompromisslos darin war, sich ihren »Freiraum« zu verschaffen. Trennung war stets ein großer Schmerz für mich, den ich aber sofort vergaß, wenn sie sagte, ich habe immer Zeit für dich, ich liebe dich, du gehst mir nie auf die Nerven, mein Leben wäre nichts ohne dich, du bist ein Geschenk für mich, gut, dass es dich gibt, gib Gott, dass wir nie getrennt sind.
    Ich kann mich nicht erinnern, dass sie ein einziges Mal über mich geflucht hätte. Wann immer sie einmal ärgerlich oder wütend wurde, formulierte sie konkrete Ansprüche: Sei so lieb und räum das auf; bitte nasch nicht davon, lass uns das für Sonntag. Und wenn ich am Klavier herumklimperte, sagte sie: Es klingt wie Ravel. Niemals verlor sie sich in Vergleichen mit anderen Kindern, in übersteigerten Bildern, die dann sowieso nicht gepasst hätten.
    Ich liebte sie, weil ich alles an ihr liebte. Oder umgekehrt: Da ich nichts an ihr auszusetzen hatte, war meine Liebe durch nichts eingeschränkt. Niemals zweifelte sie an meinen guten Fortschritten, wenngleich sie das an nichts Konkretem festmachte. Das hatte seine Ursache einmal darin, dass sie mich nicht auf etwas Bestimmtes festlegen wollte. Zum anderen war ihr Geist immer angefüllt mit Gegenwärtigem wie mit Klängen, Gerüchen, Eindrücken von Farben. Sie teilte diese Eindrücke sofort begeistert mit mir, wenn sie die ersten roten Tomaten sah, goldgelbe Zwiebeln, grüne Kräuter, die verschiedenen Schattierungen des Lichtes über den Tag oder an schönen Sommermorgen das Himmelsblau. Sie rief dann, oh, sieh mal wie rot die Tomaten sind! Und wie goldgelb die Zwiebeln!
    Sie malte sich meine Zukunft nicht aus, sondern ließ mich immer wieder wissen, dass jemand wie ich stets einen Weg fände, »alle Wege führten nach Rom«, da machte sie sich gar keine Sorgen. Mein Ziel war also Rom.
    »Ja, du wirst Papst!«, rief sie lachend.
    Natürlich wollte ich wissen, wie sie sich das vorstellte, aber schalkhaft wich sie solch waghalsigen Spekulationen aus und gab Begründungen wie diese:. »Keinen Moment zweifle ich daran, wenn ich sehe, mit welchem Appetit du isst!«
    Würde man sich zu einer so hohen kirchlichen Position empor essen können, hätte sie sogar recht gehabt, denn was sie mit großer Lust gekocht hatte, verschlang ich mit ebenso großem Genuss. War ihr Lieblingsgericht Gänsebraten, konnte ich mir nichts Verlockenderes vorstellen. Ging ihr der Sinn nach Himbeersaft, wollte ich nichts weiter haben als den Saft dieser durch ein Tuch passierten Frucht. Auch sonst war ich Feuer und Flamme für ihre Ideen. Wenn sie rief: »Wollen wir an die See?«, war ich ihr noch fröhlicheres Echo und jubelte ohne Zögern: »Oh ja, an die See!«
    Sie war das Lächeln der Göttin. Sie wollte nichts als meine Liebe und Verzückung.
     
    So sah ich es, und so empfand ich es. Erst als Erwachsener fiel mir auf, dass es zwischen der großen Freiheitsliebe meiner Mutter und der engen Beziehung zu mir, die man sehr wohl auch als Knebelung auffassen könnte, einen Widerspruch gab. Ein Psychologe, dem ich später von ihr vorschwärmte, fragte mich, ob diese kindliche Liebe auch einer kritischen Reflexion der tatsächlichen Geschehnisse standhalten würde. Als ich länger darüber nachdachte, fielen mir meine häufigen Besuche bei Tante Lieschen in Gollnow auf und die vielen Reisen meiner Mutter nach Dresden zu meinem Vater. Mir kam dann auch in Erinnerung, wie ich bei Gewitter stundenlang im Garten in einem Kinderwagen gelegen und geschrieen hatte. Oder wie sie sich niemals meinem Vater entgegengestellt hatte, wenn er mit Prügel oder Stubenarrest strafte, der manchmal über zwei Tage ging. Dennoch muss ich sagen: Ist es nicht gerade das Glück der Kindheit, die Dinge vereinfacht zu sehen, getragen von einer Lebenskraft, die den kleinen
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